2.14 Baltikum und Russland im 18. Jh.

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=Baltikum und Russland im 18. Jh.=
''Mati Laur''
 
==Die baltischen Provinzen Liv- und Estland unter der russischen Herrschaft im 18. Jahrhundert==
Dem Volksmund nach gibt es in der estnischen und lettischen Geschichte verschiedene „Zeiten“: die Dänen-, Ordens-, Polen-, Schweden- und Russenzeit. Die zuletzt genannte, zwei Jahrhunderte umfassende Periode wurde durch die Unterwerfung des Liv- und Estlands unter Rußland im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) eingeleitet. Das Gouvernement Estland bestand aus dem nördlichen Teil des heutigen Staatsgebiets der Republik Estland, die Provinz Livland umfasste den Süden des heutigen Estlands sowie den Norden Lettlands einschliesslich der Stadt Riga. Die russische Staatsmacht, die deutsche Oberschicht mitsamt der hier herrschenden protestantischen Kirche und die Ureinwohnerschaft bestehend aus Esten und Letten, die zumeist Leibeigene waren, schufen zusammen ein buntes und gegensätzliches Bild des Baltikums nach dem Nordischen Krieg. Unter der russischen Herrschaft blieb eine weitgehende Autonomie – „der baltische Landesstaat“ – erhalten, die sich auf die deutschsprachige, lutherische Oberschicht stützte. Es galten weiterhin die unter schwedischer Herrschaft ausgebildete Verwaltungsordnung und die Behördenstruktur. <br />
 
Bei der Verwaltung des Liv- und Estlands wirkten während des 18. Jahrhunderts zwei gegensätzliche Richtungen: Auf der einen Seite standen die Bestrebungen des deutschbaltischen Adels nach der Aufrechterhaltung und der Ausdehnung des bisherigen ''status provincialis'', auf der anderen Seite trachteten die russischen Behörden nach einer noch intensiveren Integration des Baltikums in das übrige Reich und einer Vereinheitlichung der Verwaltungsordnung. <br />
 
Mit der Stärkung des Absolutismus während der Regierungszeit Katharinas II. nahm auch der Druck auf den baltischen Landesstaat zu. Die baltische Autonomie geriet an sich in Widerspruch zu den Machtbestrebungen der Kaiserin, die die Einführung einer von aufklärerischen Grundsätzen getragenen Rechtsordnung im ganzen Reich zum Ziel hatten, ohne dabei nationale, religiöse oder geographische Besonderheiten in Betracht zu ziehen. Ab der Regierungszeit Katharinas II. beginnt eine jahrzehntelang dauernde politische Pattsituation zwischen der russischen Zentralregierung und den baltischen Provinzen, wo die Zentralregierung zwar eine engere Integration des Baltikums ins übrige Imperium anstrebt, zugleich jedoch nicht in der Lage ist, die baltische Autonomie radikal aufzuheben.

Revision as of 13:32, 3 July 2019

Mati Laur

Die baltischen Provinzen Liv- und Estland unter der russischen Herrschaft im 18. Jahrhundert

Dem Volksmund nach gibt es in der estnischen und lettischen Geschichte verschiedene „Zeiten“: die Dänen-, Ordens-, Polen-, Schweden- und Russenzeit. Die zuletzt genannte, zwei Jahrhunderte umfassende Periode wurde durch die Unterwerfung des Liv- und Estlands unter Rußland im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) eingeleitet. Das Gouvernement Estland bestand aus dem nördlichen Teil des heutigen Staatsgebiets der Republik Estland, die Provinz Livland umfasste den Süden des heutigen Estlands sowie den Norden Lettlands einschliesslich der Stadt Riga. Die russische Staatsmacht, die deutsche Oberschicht mitsamt der hier herrschenden protestantischen Kirche und die Ureinwohnerschaft bestehend aus Esten und Letten, die zumeist Leibeigene waren, schufen zusammen ein buntes und gegensätzliches Bild des Baltikums nach dem Nordischen Krieg. Unter der russischen Herrschaft blieb eine weitgehende Autonomie – „der baltische Landesstaat“ – erhalten, die sich auf die deutschsprachige, lutherische Oberschicht stützte. Es galten weiterhin die unter schwedischer Herrschaft ausgebildete Verwaltungsordnung und die Behördenstruktur.

Bei der Verwaltung des Liv- und Estlands wirkten während des 18. Jahrhunderts zwei gegensätzliche Richtungen: Auf der einen Seite standen die Bestrebungen des deutschbaltischen Adels nach der Aufrechterhaltung und der Ausdehnung des bisherigen status provincialis, auf der anderen Seite trachteten die russischen Behörden nach einer noch intensiveren Integration des Baltikums in das übrige Reich und einer Vereinheitlichung der Verwaltungsordnung.

Mit der Stärkung des Absolutismus während der Regierungszeit Katharinas II. nahm auch der Druck auf den baltischen Landesstaat zu. Die baltische Autonomie geriet an sich in Widerspruch zu den Machtbestrebungen der Kaiserin, die die Einführung einer von aufklärerischen Grundsätzen getragenen Rechtsordnung im ganzen Reich zum Ziel hatten, ohne dabei nationale, religiöse oder geographische Besonderheiten in Betracht zu ziehen. Ab der Regierungszeit Katharinas II. beginnt eine jahrzehntelang dauernde politische Pattsituation zwischen der russischen Zentralregierung und den baltischen Provinzen, wo die Zentralregierung zwar eine engere Integration des Baltikums ins übrige Imperium anstrebt, zugleich jedoch nicht in der Lage ist, die baltische Autonomie radikal aufzuheben.