Jörg Hackmann, Anders Fröjmark, Mati Laur
Seit Ende des Kalten Krieges gilt der Ostseeraum als Region, die durch eine gemeinsame Geschichte und den Wunsch seiner Anrainerländer geprägt ist, in Frieden zu leben und ihr eigenes politisches, wirtschaftliches und soziales System selbst frei zu wählen. Dieser Zustand, in dem die Beziehungen zwischen den Staaten rund um die Ostsee nicht durch gewaltsame Konflikte, sondern durch friedliche Kontakte geprägt ist, besteht aber erst seit relativ kurzer Zeit und ist gefährdet. Heute gibt es viele Anstrengungen für eine demokratische Zukunft in Frieden und Wohlstand; aber wie kann man sich auf eine gemeinsame Geschichte berufen, wenn diese Geschichte durch Krieg, Völkermord, Besatzung, Unterdrückung, Plünderungen und andere schreckliche Verbrechen geformt wurde? Sollte man Geschichte als überstandene Vergangenheit behandeln, die man überwinden oder ignorieren muss, weil sie zu unserer Gegenwart und Zukunft keinen Bezug hat?
Der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin formulierte dieses Dilemma in seiner Interpretation des Gemäldes Angelus Novus von Paul Klee:
Die folgenden Aspekte und Beispiele sollen Denkanstöße geben und dazu anregen, frühere Abschnitte der gewaltsamen Geschichte des Ostseeraums auf eine Weise zu verstehen, die nicht von wieder erstarkendem Nationalismus, sondern von Dialog und Aussöhnung geprägt ist.
Auch wenn Kriege und ihre traumatischen Folgen für Soldaten und die Zivilbevölkerung in den Augen jüngerer Generationen der Vergangenheit anzugehören scheinen, gibt es immer noch viele, die sich lebhaft an den Zweiten Weltkrieg und seine Gräuel erinnern.
Krieg und Frieden prägten auch das Leben fast aller vorhergehenden Generationen im Ostseeraum. Wenn wir uns heute daran erinnern, sind die Schrecken in den Hintergrund getreten und wir betrachten die Schlachten früherer Jahrhunderte zunehmend als Gelegenheit, die vergangenen Ereignisse nachzustellen und selbst zu erleben. Dies geschieht zum Beispiel in der Marienburg/ Malbork und bei Reenactments der Schlacht von Tannenberg/ Grunwald/ Žalgiris des Jahres 1410. In jüngerer Zeit werden aber auch Reenactments von Schlachten des Zweiten Weltkriegs veranstaltet (siehe den Dokumentarfilm von Meelis Muhu „Let’s play war“ - https://vimeo.com/163809103).
Oder wir bewundern die „Vasa“ im gleichnamigen Museum in Stockholm. Bei ihrem Bau war sie das größte Kriegsschiff ihrer Zeit; sie erreichte jedoch nie ihr Einsatzgebiet vor der polnischen Ostseeküste, sondern kenterte und sank 1628 bei ihrer Jungfernfahrt im Hafen von Stockholm. Dort blieb sie im schlammigen Boden 300 Jahre lang erhalten, bis sie Ende der 1950er Jahre entdeckt und 1961 gehoben wurde.
Heute sind Schiffswracks und Kanonen aus dieser Zeit vor allem historische Artefakte. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das lateinische Schlagwort Dominium maris baltici – Herrschaft über die Ostsee – uns weniger an den Horror vergangener Kriege denken lässt als an historische Gemeinsamkeiten im Ostseeraum.
Worum ging es bei diesem Konflikt der Ostseemächte? Für viele Jahrhunderte war die Kontrolle über das Meer ein entscheidender Machtfaktor. Hier nahm zunächst Dänemark eine führende Rolle ein, weil das Land den Öresund und damit die Passage zwischen Nord- und Ostsee kontrollierte. Der Sundzoll war eine wichtige Einnahmequelle. Die dänische Vorherrschaft wurde 1530 von Lübeck unter der Führung von Jürgen Wullenweber herausgefordert; sein Scheitern zeigte jedoch, dass die Hansestädte als politische Faktoren gegenüber den neuen Territorialstaaten ins Hintertreffen gerieten. Gleichzeitig versuchte Schweden, seine Machtposition im Ostseeraum auszubauen, und auch Russland strebte nach einem Zugang zur Ostsee. Die 1492 von Iwan III. am rechten Ufer der Narva errichtete Festung Iwangorod verschärfte diese Spannungen.
Die Kämpfe um das Dominium maris Baltici prägten den Ostseeraum für beinahe 200 Jahre. Schweden stand dabei im Zentrum: das Land führte Kriege gegen Dänemark, den katholischen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Polen-Litauen und auch gegen Russland und beherrschte eine Zeit lang große Teile des Ostseeraums. Die Folgen dieser Kriege waren verheerend: Häufig wurden ganze Regionen geplündert und Epidemien und Hunger dezimierten den Teil der Bevölkerung, der nicht direkt im Kampf gefallen war. In Polen wird die schwedische Invasion von 1655 „Sintflut“ genannt.
Am Ende dieses Kampfes um Vorherrschaft stieg Russland zur Großmacht an der Ostsee auf und gründete 1703 an der Mündung der Newa seine neue Hauptstadt Sankt Petersburg, die heute die größte Stadt an der Ostsee ist. Im 18. Jahrhundert entwickelte die russische Außenpolitik das Konzept eines friedlichen Ostseeraums, die „Ruhe des Nordens“, wenngleich unter russischer Vorherrschaft.
Der bewaffnete Konflikt war damit jedoch nicht beendet. 1808/1809 eroberte Russland Finnland, das bis dahin zum schwedischen Reich gehört hatte, und russische Truppen überquerten die gefrorene Ostsee und bedrohten Stockholm. Als Reaktion hierauf bildete sich in Schweden die Überzeugung heraus, dass eine friedliche Politik auf der Grundlage von Neutralität für die Nation besser sei als ständige Kriege.
Die russische „Ruhe des Nordens“ ließ sich jedoch nicht auf Dauer aufrechterhalten. Im Krimkrieg von 1853–1856 stießen britische Kriegsschiffe bis Reval/Tallinn vor, das damals zum Zarenreich gehörte. Nach Unterzeichnung des Friedensabkommens musste Russland die zerstörte Festung Bomarsund auf den Ålandinseln vor Stockholm aufgeben; diese Inseln haben seit dieser Zeit einen Sonderstatus als demilitarisierte Zone.
Ende des 19. Jahrhundert bauten und stationierten Russland und Deutschland große Flotten an der Ostseeküste; deren wichtigste Basen waren auf deutscher Seite Kiel und Mürwik (nach dem Vorbild der Marienburg) und auf russischer Seite Libau/Liepāja und Kronstadt vor Sankt Petersburg.
Im Ersten Weltkrieg waren die skandinavischen Königreiche neutral und Schweden konnte seine neutrale Stellung auch im Zweiten Weltkrieg aufrechterhalten.
Nach 1945 kehrte die Idee der „Ruhe des Nordens“ im Slogan „Meer des Friedens“ zurück. Dieser Slogan drückte nicht nur die Sehnsucht der Menschen nach einer friedlichen Zukunft aus, die nach den Erfahrungen des Krieges aus guten Gründen weit verbreitet war, sondern diente auch als ideologisches Argument im Kalten Krieg.
Nach dieser Lesart waren die sozialistischen Länder friedlich, die kapitalistischen Staaten angeblich aggressiv. Im Gegenzug beschworen bestimmte politische Kreise im Westen die Gefahr eines „Roten Meeres“ herauf.
Die NATO und der Warschauer Pakt bereiteten sich auf einen neuen Krieg im Ostseeraum vor. Nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es Pläne für eine deutsche Marine, die nicht nur die westliche Ostsee gegen sowjetische Angriffe verteidigen, sondern auch Landemanöver an der östlichen Ostseeküste durchführen sollte. Im Gegenzug planten die DDR und Polen eine möglichst schnelle Eroberung Dänemarks mit einem anschließenden Vorstoß in die Nordsee. Wie angespannt die Situation war, zeigen auch die zahlreichen sowjetischen U-Boote, die in schwedische Gewässer eindrangen, wie zum Beispiel beim „Whiskey-on-the-rocks“-Vorfall von 1981, als ein U-Boot vor Karlskrona auf Grund lief.
Es gab einige militärische Sperrgebiete, vor allem an der sowjetischen Ostseeküste: der Zugang zum Gebiet um Kaliningrad war selbst für Sowjetbürger eingeschränkt und westliche Ausländer durften wegen des nahe gelegenen Militärflughafens nicht in Tartu übernachten. Neben der militärischen Dominanz wurde die Ostseeküste von der DDR bis zur Sowjetunion streng überwacht, um eine Flucht übers Meer zu verhindern: Viele Strände wurden nachts mit Rechen geglättet, um Fußspuren sichtbar zu machen.
Es gab nur wenig friedliche Kontakte über die Ost-West-Grenze hinweg, zum Beispiel Fährlinien. Die wenigen, die es gab, führten oft über Finnland, weil das Land eine Sonderstellung zwischen Ost und West einnahm.
Zur letzten Phase der militärischen strategischen Planung gehört der Fährhafen Mukran auf Rügen, der 1986 fertig gestellt wurde und der DDR eine direkte Eisenbahnverbindung nach Memel/Klaipeda in der Sowjetunion eröffnete. Dadurch konnten Militärgüter unter Umgehung Polens direkt von der DDR in die Sowjetunion und umgekehrt befördert werden. Nach der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność 1980 befürchtete die Führung der DDR, die polnischen Proteste gegen das sozialistische Regime könnten sich auf die DDR ausbreiten.
Frieden und Freiheit wurden im Kalten Krieg bis 1989 als Kampfbegriffe im Ost-West-Konflikt eingesetzt; dies änderte sich mit den Protesten von Tallinn bis Leipzig Ende der 1980er Jahre. Die „singende Revolution“ in den baltischen Sowjetrepubliken symbolisierte diesen epochalen Wendepunkt im Ostseeraum. Der lettische Dokumentarfilmer Juris Podnieks fing den Optimismus dieser Jahre in seinem Film „Krustceļš“ (Heimat) von 1988 ein.
Nach dem Ende der sozialistischen Regime bestand der wichtigste Wunsch der Ostseeanrainerstaaten von Deutschland bis Estland im Rückzug der sowjetischen Truppen und dem Abbau ihrer Militäranlagen. Die außenpolitische Priorität der Staaten von Polen bis Estland war der Beitritt zur NATO als Schutz gegen eine erneute Bedrohung durch Russland. Insbesondere die neutralen nordeuropäischen Staaten Finnland und Schweden versuchen, Sicherheit im Ostseeraum nicht nur über militärische Bündnissysteme, sondern auch mittels eines sicherheitspolitischen Dialogs und vertrauensbildender Maßnahmen zu definieren.