2.15 Otto von Bismarck - Held oder Antiheld?

Juhan Kreem und Christian Pletzing

Der preußische Ministerpräsident und Kanzler des Deutschen Reichs Otto von Bismarck (1815-1898) war eine Persönlichkeit, die weit jenseits der deutschen Grenzen kontrovers beurteilt wird.

Nach seiner Entlassung 1890 wurde Bismarck zu einem zentralen Symbol des Deutschen Reichs. An den „Eisernen Kanzler“ und Gründer des Reichs erinnern nicht nur zahlreiche Denkmäler, darunter das 34 Meter hohe Bismarckdenkmal in Hamburg, sondern auch 240 „Bismarcktürme“. Die konservativ-monarchische Politik Bismarcks war umstritten, selbst zu seiner Lebenszeit. Doch auch prominente liberale Kritiker, wie der Historiker Theodor Mommsen oder der Soziologe Max Weber, konnten seine Beliebtheit nicht schmälern. Mit der Einführung der Sozialversicherung schuf Bismarck außerdem eine der Grundlagen des modernen Wohlfahrtsstaats. Der Bismarck-Mythos überlebte den Sturz der Monarchie 1918, sodass es für die Nationalsozialisten später einfach war, Hitler als Fortsetzung und Vollendung von Bismarcks Wirken darzustellen.

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Nach 1945 wurde Bismarck in der DDR als Wegbereiter Hitlers betrachtet. Sein Geburtshaus wurde zerstört und selbst der „Bismarckhering“ wurde in „Delikatessenhering“ umbenannt. In der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre distanzierten sich die Menschen eher zögerlich von Bismarck, versuchten aber auch die These der Kontinuität von Bismarck zu Hitler zu dekonstruieren. Vor dem Hintergrund der abnehmenden Bedeutung des Nationalstaates und der französisch-deutschen Verständigung wurde der Mythos allerdings immer weniger wichtig.

Aufgrund seiner für Polen nachteiligen Politik verkörperte Bismarck in Polen alle negativen Eigenschaften der Deutschen. Besonders kritisch gesehen wurden die Ausweisung von etwa 30 000 Polen 1885, die Gründung der Preußischen Ansiedlungskommission 1886, die große polnische Ländereien aufkaufen und an deutsche Siedler verkaufen sollte, sowie der Kulturkampf gegen die Katholische Kirche und sein Bündnis mit Russland. In Polen wurde die antipolnische Kontinuität von Friedrich II. über Bismarck bis zu Hitler in weiten Teilen akzeptiert. Bis 1989 wurde Bismarck trotz einiger differenzierter Urteile polnischer Historiker von der Öffentlichkeit als Symbol des bösen Deutschen betrachtet. Der negative Bismarckmythos hatte in Polen allerdings bereits in den 1980er Jahren an Bedeutung verloren. Vor allem Bismarck-Gedenkstätten im polnischen Pommern führten als Teil des regionalen Marketings zur Herausbildung eines positiveren Bildes. Darüber hinaus wurde die Geschichte der Familie Bismarck in Szczecin und Umgebung differenzierter betrachtet, wo sich zwei Familienmitglieder für die Gründung eines internationalen Bildungszentrums in dem Herrenhaus einsetzten, das einst Bismarcks Bruder in Kulice gehörte.

In den baltischen Staaten ist die Beziehung zu Bismarck komplex. Für die Deutsch-Balten war er ein Held des deutschen Nationalstaats. Doch gleichzeitig weigerte Bismarck sich, die Deutsch-Balten gegen die russischen Zaren zu unterstützen, die in den baltischen Provinzen Reformen durchführten, mit denen die Privilegien der Deutsch-Balten unterminiert wurden. Obwohl Bismarck die baltischen Provinzen gut kannte und unter den Deutschen dort viele persönliche Freunde hatte, konnte er eine Konfrontation mit Russland, die die Reichsgründung gefährden würde, nicht zulassen. Obwohl die historische Figur Bismarck in Estland überhaupt keine Rolle spielt, gibt es dort seltsamerweise ein Kartenspiel, das Bismarck heißt und heute noch gelegentlich gespielt wird. Die Wiederbelegung des Bismarckkults in Estland ist ein Aspekt der neu entdeckten Liebe zur deutsch-baltischen Herrenhauskultur.

1898 berichtete die Warschauer Wochenzeitung Tygodnik Ilustrowany über den gerade verstorbenen Kanzler unter dem Titel „Der deutsche Kreuzritter“:

Gestorben ist ein schrecklicher Mensch, […]. Der preußische Junker, dieser typische Nachfahre der alten Kreuzritter, offenbarte bei all seiner Pracht und Herrlichkeit einen Geist der Verachtung für die Schwächeren, Arglist gegenüber Stärkeren, eine Ethik der Faust und eine Vergötterung des Rechts des Stärkeren[...].

Aus den Erinnerungen der Baroness Lucie Stael-Holstein:

My presence may have suddenly made the Baltic Sea region representational to him. He respected and loved people there... In quick succession he asked about people and conditions - showing a lively interest and an astonishing memory... Finally, he turned again to the Baltic Sea provinces. A series of happy days passed his mind, hunting pictures appeared in front of him. Our wonderful winter forest and his big moose and bear, which he had hunted down. Again I felt it, he loved the land and it hurt him that everything had come as it had to come. - Before he picked up the table, the prince ordered a bottle of sparkling wine to be brought, and when it was sparkling in the glass, he raised his bottle and drank it to me, emptying it for a draught, and solemnly said: "To the good of your unhappy, beautiful homeland. No one can help her. Only the one who makes good of bad weather - he can.”
- zitiert aus Reinhard Wittram. „Das Reich und seine älteste Kolonie.“ In: Reinhard Wittram. Rückkehr ins Reich. Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1939/1940. Posen, 1942. S. 44.

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2005 wurde im masurischen Dorf Nakomiady ein Bismarck-Obelisk wieder errichtet. Der Gedenkstein war vor 1945 aufgestellt worden, als Masuren noch zu Deutschland gehörte. Der Wiederaufbau des Obelisken war umstritten: Die meisten Einwohner des Dorfes waren dafür, andere prangerten an, dass damit ein Politiker geehrt würde, der gegen Polen und die katholische Kirche gekämpft hatte.
„Der Tumult rund um den Obelisken des Eisernen Kanzlers in Nakomiady sorgte für Engagement bei den Dorfbewohnern und motivierte sie zu ihrem eigenen Vorteil zu handeln,“ sagte Halina Szara, eine Dorfbewohnerin und Ratsmitglied der Kȩtrzyn-Kommune. Zuvor hatte sie, ohne die Menschen in Nakomiady nach ihrer Meinung zu fragen, den Obelisken im Dorf enthüllt. [...]
Das Denkmal für den preußischen Kanzler Otto von Bismarck aus dem Jahr 1899 wurde im Herbst 2005 in Nakomiady wieder aufgestellt – es war seit den 1960er Jahren im Boden vergraben. Der Rat zum Schutz der Erinnerung an Kampf und Märtyrertum ist gegen seine Enthüllung, aber die Dorfbewohner stimmten dafür, ihn zu erhalten. Im Februar ordnete die Bezirksinspektion der Bauaufsicht den Vorstand von Kȩtrzyn Sławomir Jarosik an, den Obelisken zu entfernen. Der Grund? Keine Erlaubnis, den Obelisken wieder zu enthüllen. Vor einigen Tagen bestätigte der Inspektor die Entscheidung vom Februar. Jarosik glaubt, dass er nicht gegen das Gesetz gehandelt hat und beabsichtigt nicht, den Obelisken abzubauen [...]
- Gazeta Wyborcza, Olsztyn, 28.5.2006, http://olsztyn.wyborcza.pl/olsztyn/1,48726,3377758.html (1.5.2019)

2006 bewertete der deutsche Historiker Volker Ullrich die Bedeutung Bismarcks nach 1990:

In der Geschichtspolitik des zweiten deutschen Nationalstaats spielt Bismarck keine nennenswerte Rolle mehr. Er ist weder Held noch Sündenbock, weder Mythos noch Dämon. […] Vielleicht lässt sich sagen, dass dieser umstrittene Staatsmann erst jetzt ganz der Geschichte angehört – und wir ihn deshalb in seinen Leistungen und Grenzen vorurteilsfreier betrachten können, als es früheren Generationen möglich war.
- Jerzy W. Borejsza und Hans Henning Hahn. Otto von Bismarck. Was von einem Mythos, vom Kopf auf die Füße gestellt, übrig bleibt In: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Hrsg. v. Hans-Henning Hahn und Robert Traba. Band 1, Paderborn, Ferdinand Schöningh, 2015. S. 635-665, hier S. 657.

Die Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag von Bismarck in Rayküll, die Konferenz, die Pflanzung einer Eiche und die Enthüllung einer Bismarck-Bank:

Er wird vor allem für die Vereinigung Deutschlands gepriesen, ist aber auch für die Begründung der Politik von „Blut und Eisen“ berühmt, die in Europa in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für ein Gleichgewicht der Mächte gesorgt hatte. Der große Mann ist auch sehr bekannt für seine Besuche in Estland und seine Freundschaft mit dem Gutsherren von Rayküll, Graf Alexander von Keyserling. […] Otto von Bismarck und Alexander von Keyserling lernten sich an der Universität kennen und waren bis zum Ende ihrer Leben befreundet. Bismarck besuchte Rayküll zweimal, 1860 und 1867. Er pflanzte auch eine Eiche im Garten.
- Siim Jõgis. Raplamaa Sõnumid, 8. April 2015.

Fragen zur Reflexion

  1. Wo triffst du auf den Namen Bismarck? Was verbindest du damit?
  2. Vergleiche die deutsche, polnische und estnische Perspektive auf Bismarck – welche politischen Aspekte könnten diese beeinflusst haben?

Weiterführende Literatur

  1. Jerzy W. Borejsza und Hans Henning Hahn. „Otto von Bismarck. Was von einem Mythos, vom Kopf auf die Füße gestellt, übrig bleibt.“ In: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Hrsg. v. Hans-Henning Hahn und Robert Traba. Band 1. Paderborn, Ferdinand Schöningh, 2015. S. 635-665.
  2. Józef Feldman. Bismarck a Polska (Bismarck und Polen). Katowice, 1938
  3. Lothar Gall. Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt am Main, Propyläen, 1980.
  4. Heinrich Schaudinn. Das baltische Deutschtum und Bismarcks Reichsgründung. Leipzig, 1932.