2.17 Opfer, Zuschauer, Täter

Jörg Hackmann, Valdis Teraudkalns, Anders Fröjmark

Nach 1945 schien das Bild des 2. Weltkriegs im Ostseeraum eindeutig zu sein: Es gab Täter, vor allem deutsche Nazis, es gab einige Kollaborateure (wie Quisling in Norwegen), es gab Opfer (Juden, die besetzten Nationen wie Polen, die Bevölkerung der Sowjetunion, Dänen) und natürlich Helden – insbesondere die alliierten Streitkräfte und die Rote Armee sowie Widerstandskämpfer und Partisanen und einige Diplomaten. Und dann gab es noch die neutralen Länder, die die Ereignisse auf den Schlachtfeldern einfach nur beobachtet haben.

Allerdings waren Tatsachen und Diskussionen niemals so einfach und geradlinig, wie sie dargestellt wurden, vor allem nicht in den sozialistischen Ländern. In den Nationen, die während und nach dem 2. Weltkrieg unter Sowjetherrschaft gerieten, existierten von Anfang an auch private Erinnerungen an sowjetische Verbrechen. Das kollektive Gedächtnis hat sich seit Mitte der 1980er Jahren in großem Umfang verändert. In Westdeutschland wurde von Befreiung anstatt von Niederlage gesprochen und die Polen diskutierten, ob sie Zuschauer des Holocaust waren. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes zehn Jahre später entstand eine neue Dynamik. Nun erreichte das Thema, ob das Land die Verbrechen der Nazis und Sowjets unterstützt hatte, auch Schweden. Schweden hatte Nazi-Deutschland nicht nur mit Stahl versorgt, sondern deutschen Truppen außerdem erlaubt, das schwedische Eisenbahnsystem zu nutzen. Als die baltischen Staaten besetzt wurden, akzeptierte Schweden die Situation sofort. Und nach dem Krieg hatte das Land baltische Soldaten an die Sowjetunion ausgeliefert (vgl. die Stellungnahme von Ministerpräsident Reinfeldt im Kapitel „Mai 1945: Befreiung oder Besetzung?“).

Es entstand eine breite Diskussion über den Holocaust, die nicht mehr der früheren Aufteilung im Kalten Krieg entsprach. Polen stand unter Schock, nachdem die Ermordung jüdischer Nachbarn in Jedwabne und Umgebung aufgedeckt worden war. In Litauen und Lettland wurde über die Kollaboration von Polizisten mit der deutschen Besatzungsmacht diskutiert, ebenso wie in Norwegen nach der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse von Marte Michelt 2014. In Estland und Lettland wurde die Rolle von SS-Einheiten untersucht. Diese Debatten, die von Expertenkommissionen unterstützt wurden, führten allerdings auch zu nationalistischen Reaktionen, die darauf bestanden, dass die Mehrheit der eigenen Bevölkerung ebenfalls Opfer der Naziherrschaft war und nicht als Kollaborateure betrachtet werden sollte. In Estland führte die Kontroverse zu einem Konflikt über das Denkmal des Bronzesoldaten. Heute werden diese Fragen in zahlreichen Museen behandelt. Die ehrgeizigen Pläne des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das versuchte eine ganzheitliche und transnationale Perspektive zu entwickeln, wurden allerdings schon vor seiner Eröffnung 2017 von der nationalistischen Regierung Polens durchkreuzt. Auch um alte und neue Denkmäler entspannen sich Debatten. Grundsätzlich zeigen die aktuellen Kontroversen, dass die Hauptfrage, wie 80 Jahre nach seiner Beendigung an den 2. Weltkrieg erinnert werden soll, keine Angelegenheit einzelner Nationen ist, sondern die aller Länder im Ostseeraum.

2000 reagierte die polnische Gesellschaft schockiert auf Tomasz Gross’ Buch „Nachbarn“, in dem er die Ermordung von mehr als 300 Juden durch ihre christlichen Nachbarn in dem Ort Jedwabne im Juli 1941 beschreibt. Die Debatte wird bis heute fortgesetzt und auch der Konflikt um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig muss als Folge dieses Diskurses betrachtet werden. Denn konservative und nationalistische Gruppen der polnischen Gesellschaft stimmen der Auffassung von Gross nicht zu. Zwei Stimmen in dieser Auseinandersetzung:

An einem Tag im Juli 1941 ermordete die eine Hälfte der Bevölkerung eines osteuropäischen Städtchens die andere Hälfte – rund 1.600 Männer, Frauen und Kinder. Daher werde ich die Morde in Jedwabne im folgenden im Kontext verschiedener Themen diskutieren, die unter die Kategorie „polnisch-jüdische Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs“ fallen.
Zu allererst betrachte ich diesen Band als eine Herausforderung an die übliche Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs, der zufolge es zweierlei Geschichte während des Krieges gab: eine, die die Juden, und eine andere, die alle übrigen Bürger des jeweiligen, unter die Naziherrschaft geratenen europäischen Landes betraf. Diese Auffassung ist in bezug auf die Geschichte Polens in jenen Jahren völlig unhaltbar, wenn man bedenkt, wie zahlreich die polnische Judenheit war und welchen Platz sie innerhalb der Gesellschaft einnahm. Vor Ausbruch des Krieges gab es in Polen nächst dem amerikanischen Judentum die zweitgrößte Ansammlung von Juden. Rund 10 Prozent der polnischen Bevölkerung wiesen sich als Juden aus, sei es aufgrund ihres mosaischen Bekenntnisses oder der Angabe des Jiddischen als ihrer Muttersprache. Die städtische Bevölkerung Polens bestand fast zu einem Drittel aus Juden.
Und dennoch haben Historiker die Vernichtung der polnischen Juden als ein gesondertes, eigenes Thema eingestuft, das den Rest der polnischen Gesellschaft nur am Rande berührt. Mit den Juden hatten nach landläufiger Meinung nur Menschen „am Rand der Gesellschaft“ zu tun: einerseits die sogenannten Schmalzowniks, die Juden erpreßten und zum „Abschaum“ gerechnet werden, andererseits die Helden, die den Juden halfen. […]
Zum anderen sollte der Leser bedenken, daß die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges üblicherweise als von äußeren Kräften – den Nazis und den Sowjets – beeinflußt gedacht werden. Das ist schon richtig. In der Tat hatten die Nazis und die Sowjets in den von ihnen besetzten polnischen Gebieten das Sagen. Doch innerhalb der von den Besatzern gezogenen Grenzen folgten die Beziehungen zwischen Polen und Juden durchaus einer eigenen Dynamik. Es gab manches, was die Menschen damals hätten tun können und dennoch nicht getan haben, und manches, was sie nicht tun mußten, es aber trotzdem getan haben. Deshalb werde ich mit besonderer Sorgfalt ermitteln, wer am 10. Juli 1941 in dem Städtchen Jedwabne was getan hat – und auf wessen Geheiß.
Im August 1939 schlossen Hitler und Stalin bekanntlich einen Nichtangriffspakt. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurden die Grenzen zwischen den Einflußsphären der beiden Diktatoren in Mitteleuropa festgelegt. Einen Monat später wurde das Territorium Polens zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion aufgeteilt. Das Städtchen Jedwabne fiel zunächst in die sowjetische Besatzungszone und wurde nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion von den Nazis eingenommen. Eine wichtige Frage, die anzusprechen ich mich genötigt sah, gilt der üblichen historiographischen Darstellung der sowjetisch-jüdischen Beziehungen während der zwanzigmonatigen sowjetischen Herrschaft über jene Hälfte Polens, die ab September 1939 von der Roten Armee besetzt war. Hier ist wiederum nicht der Platz für eine umfassende Klärung. Uns interessiert daran nur das gängige Stereotyp, wonach Juden bei den sowjetischen Besatzern eine Vorzugstellung genossen. Sie sollen auf Kosten der Polen mit den Sowjets kollaboriert haben, und wenn es 1941 beim Überfall der Nazis auf die UdSSR in den von der bolschewistischen Herrschaft befreiten Gebieten zu einem brutalen Ausbruch des polnischen Antisemitismus kam, so war das möglicherweise eine Reaktion auf diese Erfahrung. Deshalb untersuche ich, ob es zwischen dem, was unter der sowjetischen Besatzung (September 1939 bis Juni 1941) in Jedwabne geschah, und den Ereignissen unmittelbar danach irgendwelche Zusammenhänge gibt.
Das Massaker von Jedwabne berührt einen weiteren Topos der Geschichtsschreibung dieser Zeit. Zwischen den Juden und den Kommunisten bestand angeblich eine für beide Seiten vorteilhafte Beziehung, mit der man den Antisemitismus breiter Schichten der polnischen (oder jeder anderen osteuropäischen) Gesellschaft nach dem Krieg und die besondere Rolle von Juden bei der Errichtung und Festigung des Stalinismus in Osteuropa erklärt.
- Jan Tomasz Gross, aus der Einleitung von: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001, S. 18–20.

Der polnische Historiker Adam Michnik:

Mordeten die Polen gemeinsam mit den Deutschen die Juden? Es gibt kaum eine Behauptung, die so absurd und kaum ein Stereotyp, das so falsch wäre. Keine polnische Familie wurde vom Nationalsozialismus und dem sowjetischen Kommunismus verschont. Beide totalitäre Diktaturen vernichteten drei Millionen Polen und drei Millionen polnische Staatsbürger, die von den Nationalsozialisten als Juden klassifiziert wurden.
Polen reagierte als erstes Land mit einem kategorischen „Nein“ auf die Forderungen Hitlers und nahm als erstes Land den Kampf gegen die deutsche Aggression auf. Die polnische Nation brachte keinen Quisling hervor und keine polnische Armeeeinheit kämpfte auf der Seite des Dritten Reiches. Die Polen, von zwei Totalitarismen infolge des Ribbentrop-Molotow-Paktes angegriffen, kämpften vom Anfang bis zum Ende des Krieges in den Armeen der Anti-Hitler-Koalition. In Polen entwickelte sich eine breite Bewegung des Widerstands, der bewaffneten Anti-Hitler-Konspiration und -Diversion.
Damals würdigte der englische Premierminister die Teilnahme der Polen an der Schlacht um England. Der amerikanische Präsident nannte sie sogar die „Inspiration der Welt“. Dies hinderte beide Politiker allerdings nicht daran, sich in Jalta mit Stalin auf eine Vereinbarung zu verständigen, der Polen zum Opfer fiel. Das Land fiel dem Sowjettyrannen in die Hände. Daraufhin fanden sich die Helden der Widerstandsbewegung als Feinde des Stalinschen Kommunismus im sowjetischen Gulag sowie in polnischen kommunistischen Gefängnissen wieder.
Diese historische Entwicklung prägte die polnische Sicht der eigenen Geschichte: Polen war stets unschuldiges und ehrenhaftes Opfer feindlicher Gewalt und fremder Intrige. Während man nach dem Krieg in der freien Welt die Erfahrung des Nationalsozialismus und Holocaust reflektierte, verhinderte in Polen der Stalinsche Terror für viele Jahre die Debatte über die jüngste Vergangenheit, über die Vernichtung der Juden und den Antisemitismus.
Gleichzeitig waren die antisemitischen Traditionen in Polen tief verwurzelt. Im XIX. Jahrhundert, als der polnische Staat nicht existierte, bildete sich die moderne polnische Nation auf der Grundlage ethnischer und religiöser Bindungen. Dies geschah in Opposition zu den Nachbarnationen, die dem polnischen Traum von der Unabhängigkeit gleichgültig oder feindselig gegenüberstanden. Wie in anderen Ländern dieser Region mit jüdischer Bevölkerung wurde der Antisemitismus zum ideologischen Kitt eines großen politischen Lagers. In Polen war es die Nationaldemokratie. Der Antisemitismus wurde zudem von der russischen Verwaltung nach dem Prinzip divide et impera geschürt.
[…]
Dennoch kollaborierte die polnische nationalistische und antisemitische Rechte – anders als in den meisten europäischen Ländern – nicht mit den Nazis. Vielmehr beteiligte sie sich aktiv am Untergrundkampf gegen Hitler. Polnische Antisemiten kämpften gegen Hitler, und manche von ihnen beteiligten sich an der Hilfsaktion für Juden, obwohl dafür die Todesstrafe drohte.
Es ist ein spezifisch polnisches Paradox: Im besetzten Polen konnte man sowohl Antisemit als auch Held der Widerstandsbewegung gegen Hitler wie Judenretter sein.
[…]
Die polnische Öffentlichkeit ist heterogen, aber beinahe alle Polen reagieren sehr scharf, wenn ab und zu jüdische Beschuldigungen laut werden, daß sie den „Antisemitismus mit der Muttermilch eingesogen“ hätten. Noch mehr regen sie sich auf, wenn ihnen eine Beteiligung am Holocaust vorgeworfen wird. Für die Antisemiten, an denen es am Rande des politischen Lebens nicht fehlt, stellen diese Anschuldigungen die willkommene Bestätigung der These dar, daß es eine internationale jüdische Verschwörung gegen Polen gibt. Für gewöhnliche Menschen, die in den Jahren der Verfälschung der Holocaust-Geschichte bzw. des Schweigens darüber sozialisiert wurden, stellen diese Beschuldigungen eine krasse Ungerechtigkeit dar.
Eben diese Menschen reagierten mit einem ungeheuren Schock auf das Buch „Nachbarn“ von Jan Tomasz Gross. Dieses Buch deckt die Wahrheit über den von Polen begangenen Mord an 1.600 Juden in Jedwabne auf. Das Ausmaß des Schocks ist schwer zu beschreiben. Es rief Reaktionen hervor, die mit den jüdischen Reaktionen nach der Veröffentlichung Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ vergleichbar sind.
[…]
Ich glaube weder an Kollektivschuld noch an eine kollektive Verantwortung, die etwas anderes bedeutet als moralische Verantwortung. Sodann überlege ich mir, worin meine individuelle Verantwortung und meine eigene Schuld bestehen. Ich kann gewiß keine Verantwortung für jene Verbrechermenge tragen, die die Scheune in Jedwabne anzündete. Ähnlich kann man die heutigen Bewohner von Jedwabne nicht für das damalige Verbrechen schuldig erklären. Wenn ich die Aufforderung höre, meine polnische Schuld zu bekennen, fühle ich mich ebenso verletzt wie die Bewohner von Jedwabne, die von Journalisten aus der ganzen Welt befragt werden.
Wenn ich aber höre, daß das Buch von Gross, das die Wahrheit über das Verbrechen aufdeckt, eine von der internationalen jüdischen Verschwörung erfundene antipolnische Lüge sei, dann wächst in mir das Schuldgefühl. Diese lügenhaften Verdrehungen von heute stellen nämlich in Wirklichkeit die Rechtfertigung des damaligen Verbrechens dar.
Ich taste mich an meinen Text sehr vorsichtig heran, ich wäge die Worte, wiederhole den Spruch von Montesquieu: „Vom Wesen her bin ich ein Mensch und nur zufällig Franzose“. Ich bin auch durch Zufall Pole mit jüdischen Wurzeln. Fast meine ganze Familie hat der Holocaust verschlungen, meine Nächsten hätten in Jedwabne umkommen können. Einige von ihnen waren Kommunisten bzw. Verwandte von Kommunisten, andere waren Handwerker, Händler, vielleicht Rabbiner. Aber alle waren Juden – nach den Nürnberger Gesetzen des Dritten Reichs. Sie hätten alle in diese Scheune getrieben werden können, die von der Hand eines polnischen Schergen angezündet wurde.
Ich fühle mich gegenüber den Ermordeten nicht schuldig, aber ich fühle mich verantwortlich. Nicht dafür, daß sie ermordet worden sind – das konnte ich nicht verhindern. Ich fühle mich allerdings dafür verantwortlich, daß sie nach ihrem Tod zum zweiten Mal umgebracht wurden. Sie wurden nicht wie Menschen begraben, nicht beweint, man hat die Wahrheit über dieses abscheuliche Verbrechen nicht aufgedeckt und zugelassen, daß jahrzehntelang eine Lüge verbreitet wurde.
Und dies ist schon meine Schuld. Aus Mangel an Phantasie und Zeit, aus Opportunismus und Gedankenfaulheit habe ich mir bestimmte Fragen nicht gestellt. Ich habe nicht nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Warum? Ich gehörte doch zu denjenigen, die sich aktiv für die Aufdeckung der Wahrheit über das Verbrechen in Katyn, die Schauprozesse der Stalin-Zeit und die Opfer des kommunistischen Repressionsapparats engagiert haben. Warum habe ich dann nicht nach der Wahrheit über die in Jedwabne ermordeten Juden gesucht? Vielleicht fürchtete ich mich unbewußt vor dieser grausamen Wahrheit über das damalige jüdische Schicksal? Der verwilderte Pöbel aus Jedwabne stellte doch keine Ausnahme dar. In allen Ländern, die 1939 von der Sowjetunion erobert worden waren, kam es im Sommer und Herbst 1941 zu grausamen Verbrechen an den Juden. Sie wurden von ihren litauischen, lettischen, estnischen und ukrainischen, russischen und weißrussischen Nachbarn umgebracht. Ich denke, die Zeit ist gekommen, die ganze Wahrheit über diese schrecklichen Ereignisse endlich ans Licht zu bringen. Ich werde versuchen, dazu beizutragen.
Während ich diese Worte schreibe, empfinde ich etwas Schizophrenes. Ich bin Pole und meine Scham für den Mord in Jedwabne ist polnisch. Zugleich weiß ich jedoch: Wenn ich damals dort gewesen wäre, wäre ich als Jude ermordet worden.
Wer bin ich also, während ich diese Worte schreibe? Vom Wesen her bin ich ein Mensch und habe das zu verantworten, was ich getan bzw. unterlassen habe. Durch eigene Wahl bin ich Pole und verantworte gegenüber der Welt alles Böse, das meine Landsleute getan haben. Ich handle aus freien Stücken, aus eigener Wahl und dem Gebot des eigenen Gewissens folgend.
Aber während ich diese Worte schreibe, bin ich zugleich Jude, der tiefe Verbundenheit mit denjenigen empfindet, die als Juden ermordet wurden. Aus dieser letzten Perspektive heraus muß ich sagen: Man darf das Verbrechen in Jedwabne nicht aus dem Zusammenhang der damaligen Zeit herausnehmen. Wer versucht, dieses Verbrechen aus dem Zusammenhang der Epoche herauszureißen, wer versucht auf der Grundlage dieses Verbrechens zu pauschalisieren und behauptet, daß sich nur die Polen und alle Polen eben so verhielten, der lügt. Diese Lüge ist ebenso abscheulich wie die jahrzehntealte Lüge über das Verbrechen in Jedwabne.
Denn es hätte durchaus passieren können, daß ein polnischer Nachbar einen meiner Nächsten aus den Händen der Henker, die ihn in die Scheune trieben, herausgerissen hätte. Es gab viele solche polnischen Nachbarn – der Wald der polnischen Bäume in der Allee der Gerechten in Yad Vashem in Jerusalem ist dicht.
Ich fühle mich verantwortlich auch gegenüber den Menschen, die ihr Leben für die Rettung der Juden opferten. Ich empfinde ihnen gegenüber Schuld, sooft ich in polnischen und ausländischen Zeitungen über die Verbrecher lese, die Juden mordeten, während über die Retter beharrlich geschwiegen wird. Steht den Schergen tatsächlich mehr Ruhm zu als den Gerechten?
Der polnische Primas und der polnische Staatspräsident, der polnische Ministerpräsident und der Warschauer Rabbiner haben sich fast mit den gleichen Worten dafür ausgesprochen, daß das Gedenken der Opfer von Jedwabne der polnisch-jüdischen Versöhnung in Wahrheit dienen sollte. Ich wünsche mir nichts mehr als dies. Wenn es dazu nicht kommt, wird dies auch meine Schuld sein.
- Adam Michnik. Szok Jedwabnego, (Der Schock von Jedwabne) Gazeta Wyborcza, 17.3.2001. http://www.dpg-brandenburg.de/nr23/michnik.pdf

Die Diskussion über Opfer, Zuschauer und Täter ist jedoch nicht auf Polen begrenzt. In Estland wurde sie durch ein privates Denkmal angestoßen, mit dem an die estnischen Mitglieder einer SS-Einheit im 2. Weltkrieg erinnert werden sollte. Nach heftigen Diskussionen wurde es vom Friedhof in Lihula an den Standort eines privaten Museums in Lagedi in der Nähe von Tallin 2005 verlegt. Die estnische Inschrift lautet: „Für die estnischen Männer, die 1940–1945 gegen den Bolschewismus und für die Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit kämpften“. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Lettlands bestehen Spannungen und Kontroversen rund um die lettische Legion, eine Einheit der deutschen Waffen-SS im 2. Weltkrieg. Einige Mitglieder traten der Legion aufgrund ihrer starken Abneigung gegen die Sowjetunion bei, andere wurden einfach nur gezwungen und wiederum andere waren Antisemiten und Nazi-Kollaborateure. An die lettischen Legionäre wird am 16. März erinnert. Nachdem die meisten der Legionäre inzwischen gestorben sind, wird ihre Geschichte von lettischen wie russischen Politikern benutzt, um potenzielle Wähler zu mobilisieren (lettische Wähler entscheiden sich immer noch nach ethnischen Faktoren für ‚lettische‘ bzw. ‚russische‘ Parteien). Am 16. März, dem Gedenktag für die lettischen Legionäre (vor einigen Jahren war es noch ein offizieller Feiertag; er wurde 2000 aber von der Liste der nationalen Gedenktage gestrichen) demonstrieren verschiedene Gruppen – um die Legionäre zu feiern oder um sich ihrem Gedenken zu widersetzen, und um deren Geschichten für die eigene politische Agenda zu nutzen.

Lagedi monument.png

Fragen zur Reflexion

  1. Warum wurde die Darstellung des Massakers von Jedwabne von Gross von Teilen der polnischen Gesellschaft abgelehnt?
  2. Warum kritisierte Adam Michnik, der Herausgeber der führenden liberalen Tageszeitung in Polen, Gross?
  3. Diskutiere die Botschaft des Denkmals in Lagedi vor dem Hintergrund des 2. Weltkriegs. Welches Bild der Esten wird hier dargestellt?
  4. Kennst Du ähnliche Kontroversen in anderen Teilen der Ostseeregion?
  5. Diskutiere mögliche Lösungen, um die Erinnerungskonflikte im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg zu überwinden.

Weiterführende Literatur

  1. Karsten Brüggemann und Andres Kasekamp. „The Politics of History and the ‚War of Monuments‘ in Estonia.“ (Geschichtspolitik und der ‚Krieg der Denkmäler‘ in Estland) In: Nationalities Papers 36:3 (2008). S. 425–448.
  2. Jörg Hackmann. „From National Victims to Transnational Bystanders? The Changing Commemoration of World War II in Central and Eastern Europe.“ (Von nationalen Opfern zu transnationalen Zuschauern? Die veränderte Erinnerung an den 2. Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa.) In: Constellations 16:1 (2009). Pp. 167–181.
  3. Marte Michelet. Den største forbrytelsen: Ofre og gjerningsmenn i det norske Holocaust (Das schlimmste Verbrechen: Opfer und Täter im norwegischen Holocaust). Oslo, Gyldendal, 2014.
  4. The Neighbors respond: The controversy over the Jedwabne massacre in Poland. (Die Nachbarn antworten: Die Kontroverse über die Massaker im polnischen Jedwabne.) Hg. v. Antony Polonsky und Joanna B. Michlic. Princeton, NJ, Princeton University Press, 2004.