Ilgvars Misāns
Abbild des Umgangs mit dem historischen Erbe in einer Stadt mit wechselhafter Geschichte
Der unter dem Namen Rathausplatz bekannte Platz bildete seit dem Mittelalter den wirtschaftlichen und administrativen Mittelpunkt Rigas – der im Jahre 1201 im östlichen Teil des Ostseeraumes gegründeter Stadt, in der bis zur Wende zum 20. Jahrhundert die Deutschen tonangebend waren. Zwei prachtvolle Gebäude – das Haus der Bruderschaft der unverheirateten auswärtigen Kaufleute, ihrer Kaufgesellen und Schiffer (das Schwarzhäupterhaus) und das Rathaus – brachten besonders ausdrucksvoll die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Stadt an der Düna zum Ausdruck. Mehrmals hin und wieder umgebaut schmückten beide Bauten sowie die Rolandstatue den wohlgestalteten Platz und bildeten bis zum Zweiten Weltkrieg zusammen mit historisch weniger wertvollen Bauten ein einheitliches Ensemble. Allerdings schon in der Zwischenkriegszeit, als Riga zur Hauptstadt des neuen Nationalstaates Lettland wurde, wurden maßstäbliche ideologisch begründete Veränderungen des Aussehens des Platzes unternommen. Um die deutsche Prägung Rigas zu relativieren hat man den Bau des neuen Gebäudes der Stadtverwaltung an einer Seite des Rathausplatzes angefangen.
Im Sommer 1941 während des Anmarsches der Wehrmachtruppen ging der Platz in Flammen auf und nach der Löschung der Brandstätten lagen die Häuser in Trümmern. Solange Riga sich unter deutscher Besatzung befand, herrschte die Entschlossenheit, die wichtigsten historischen Gebäude auf dem Rathausplatz wiederaufzubauen. Als nach dem Krieg die Sowjetunion ihre Macht in im Jahre 1940 annektierten Lettland wiederherstellte, erklärten die Entscheidungsträger vor allem das Schwarzhäupterhaus zu einem Denkmal der fremden Ritterkultur, die in ihrem Kern dem lettischen Volk feindlich sei. Seine Überreste wurden im Jahr 1948 gesprengt. Sechs Jahre später beseitigte man auch die noch starken Reste des Rathausgebäudes und überführte die Rolandstatue in das städtische Depot.
In der Mitte des Platzes hat man einen öffentlichen Blumengarten mit Bänken eingerichtet. Herum entstanden nach und nach für die Hauptstadt Sowjetlettlands bedeutende Bauten, die damaligen technischen Möglichkeiten und damalige Ästhetik widerspiegelten – das Gebäude des Polytechnische Institut (die gegenwärtige Technische Universität) und eine fünfstöckige Wohnhäuserreihe, die man mit der Hilfe pseudomittelalterlicher bzw. pseudofrühneuzeitlicher Giebel mit der Umgebung der Altstadt zu harmonisieren versuchte. Mit dem im Jahre 1971 fertiggestellten Museum für den Roten Lettischen Schützen (das gegenwärtige Okkupationsmuseum) – den Helden der bolschewistischen Regimes in Russland nach 1917 – wurde auf dem Platz ein Akzent der sowjetischen Ideologie gesetzt.
Ein beachtenswerter Teil der lettischen Intellektuellen sowie der Bevölkerung hat den Verlust des historischen Rathausplatzes schon in der Sowjetzeit bereut und nach der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands in den Jahren 1990/1991 strebte man an, vor allem das Schwarzheupterhaus wiederaufzubauen. Im Dezember 1999 wurde das neuerrichtete Schwarzhäupterhaus als Museum, Veranstaltungsraum und Konzerthaus eingeweiht. Von vielen Einwohner Rigas wurde er als ein Symbol des Rückkehrs Lettlands und seiner Hauptstadt in die westeuropäische Wertegemeinschaft empfunden. Gleichzeitig wurden auch das anliegende Schwab‘sche Haus und das Zeughaus der Rigaer Stadtgarde (das Haus der Blauen Garde) nach den alten Mustern wiederaufgebaut. 2003 folgte das neue Gebäude des Rigaer Rates. Das Haus hat nur die historische Fassade zurückgewonnen, die Innenräume wurden modern gestaltet. Auch die Kopie der historischen Rolandstatue wurde auf dem Platz wiederaufgestellt. Die Gegenwart und jüngste Vergangenheit vertreten auf dem Rathausplatz der Neubau eines Nobelhotels und ein multifunktionales Bürogebäude (das Kamarinhaus), deren architektonische und ästhetische Qualität viel Kritik ausgelöst hat.
Quellen
Der Leiter der Kulturabteilung des Rigaer Rates, Jānis Āberbergs, über die Rolle der einzelnen Nationalitäten in der lettischen Hauptstadt Riga (1932):
- Eine neue Periode im Leben Rigas begann mit dem Jahr 1920. Die Regierung des neuen, unabhängigen Lettland stützte auf das ganze Volk Lettlands. Die Hauptstadt des Staates war seinerzeit deutsch, dann russisch, nun ist sie lettisch. Riga ist lettisch nur deshalb, weil die Letten die Mehrheit der Einwohner Rigas bilden und Lettisch die Umgangssprache in der Stadt ist. Sonst ist Riga eine demokratische Stadt und jede Einwohnergruppe ist in der städtischen Selbstverwaltung entsprechend ihrer Zahl und Bedeutung vertreten.
- - Aus: J[ānis] Āberbergs: Rīgas pilsētas vēsture [Geschichte der Stadt Riga], in: T[eodors] Līventāls, V. Sadovskis (Hrsg.): Rīga kā Latvijas galvas pilsēta, Riga 1932, S. 5.-56. Zitat S. 55-56.
Bürgermeister Roberts Lapiņš über die Notwendigkeit zur Veränderung des Rigaer Stadtbildes (1937):
- Der Staatspräsident und die Regierung haben mehrmals die Notwendigkeit betont, die Altstadt entsprechend dem Zeitgeist zu verändern, insbesondere in dem an der Daugava (lettischer Namen der Düna – I. M.) liegenden Teil. Die Stadt darf diese Pflicht nicht vergessen, zu die das jetzige Zeitalter auffordert, und die Stadt muss die große Aufgabe immer im Gedächtnis behalten – unserer Hauptstadt ein neues Gesicht zu geben.
- - Zitiert nach: Pārsla Pētersone: Rīgas pilsētas administratīvās ēkas [Die administrativen Bauten der Stadtverwaltung Rigas], in: Rīgas pārvalde astoņos gadsimtos, Riga 2000, S. 279.
Der verantwortliche Stadtarchitekt Rigas Voldemārs Šusts über das Misslungen der Wiederherstellung des Rathausplatzes (1967):
- Die Idee der komplexen Rekonstruierung wurde nicht ins Leben umgesetzt, wenn auch ihre Notwendigkeit offensichtlich war. Die Ruinen des Schwarzhäupterhauses wurden beseitigt, das Rathaus abgerissen. (…) Eine solche Unachtsamkeit gegenüber der Architekturdenkmälern Alt-Rigas, die sich im Gegensatz zur Meinung der Mehrheit der Architekten befand, war nicht zufällig: ihr lag nihilistische Theorie der Einschätzung unseres architektonischen Erbes zugrunde. Eigentlich hat man die Ansichten der deutschen „Kulturträgerschaft“ übernommen, die behauptete, dass die wirklichen Schöpfer aller kulturellen Werte – einschließlich der Architektur – die deutschen Einwanderer seien. Das führte zur Schlussfolgerung, dass die Architektur Alt-Rigas uns fremde, feindliche Ideologie ausdrückt! Wozu sollte man wiedererrichten, erhalten, pflegen?“
- - Voldemārs Šusts: Diskusija turpinās [Die Diskussion geht weiter], in: Māksla, 1967, Nr. 1, S. 18-19.
Der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften Lettlands, Jānis Stradiņš, über das Schicksal des Schwarzhäupterhauses (1995):
- Zu einem der Wahrzeichen der Stadt war im Laufe der Jahrhunderte das Schwarzhäupterhaus geworden oder, genauer gesagt, das Rathausplatz-Ensemble mit Schwarzhäupterhaus und der Silhouette des Turmes der Petrikirche – das sichtbare Zentrum der Baltischen Metropole, ohne das Riga kein Riga gewesen wäre. (…) Das Erwachen unseres Volkes, die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands, die Umwertung des geschichtlichen Erbes haben uns Möglichkeiten gegeben, zum Ausgangspunkt zurückzukehren, zu den Versuchen, Alt-Riga zu einem neuen Leben zu erwecken. Das 800jährige Jubiläum Rigas im Jahre 2001 ist ein zusätzlicher Stimulus zu diesem Vorhaben. Die noch vor einem Jahrzehnt undurchführbar dünkende Idee, das Schwarzhäupterhaus und in der Perspektive das gesamte Ensemble des alten Rathausplatzes wiederherzustellen, wittert man nun in der Luft (…). Die Öffentlichkeit hat diese Idee zum großen Teil akzeptiert, nur fehlt das Geld – Lettland ist noch arm, auch die alte Hansestadt Riga (…).
- Es sei daran erinnert, dass das Schwarzhäupterhaus nicht nur ein Baudenkmal ist, das sich in komplizierten epochalen und stilistischen Peripetien geformt hat, in denen es seine unwiederholbare, nicht in einem Jahrhundert geschaffene Gestalt erworben hat. Das Schwarzhäupterhaus ist auch ein Denkmal der geselligen, kulturellen und musikalischen Regsamkeit der alten Rigenser, in dessen Wänden sich wichtige historische Ereignisse abgespielt haben (…). Mit dem Schwarzhäupterhaus werden die Deutschbalten wiederholt rehabilitiert, ihre große Leistung für Riga, für die Hanse, für das Ostbaltikum, für Lettland. (…) Es soll zum Attribut des ewigen Rigas werden, die Zugehörigkeit Rigas zu Westeuropa visuell bekräftigen, an das Temperament, den Mut, die Unternehmungslust der neuen Kaufmannschaft, der neuen Wegbreiter des alten Rigas erinnern – auch auf den weiten Wegen Eurasiens.
- Nicht nur Neuaufbau, rein physisch genommen, viel mehr eine Wiederbelebung und Übernahme der Traditionen ist der philosophische Sinn der Wiederherstellung des Schwarzhäupterhauses. (…)
- Und die Rigenser von morgen werden sich wundern, wie wir mehr als 50 Jahre in dieser Stadt haben leben können ohne das Schwarzhäupterhaus.
- - Aus: Jānis Stradiņš: Über das Schicksal des Schwarzhäupterhauses und dieses Buch, in: Melngalvju nams Rīgā, hrsg. von Māra Siliņa. Riga, 1995, S. 13-14.
Fotos
Reflexionsfragen
- Welche Herrschaftsverhältnisse und politischen Wandlungen haben die Geschichte Rigas von seiner Gründung bis zur Gegenwart geprägt?
- Wie hat die wechselhafte Geschichte der Stadt das Aussehen des Rathausplatzes beeinflusst?
- Auf welchen ideologischen Grundlagen und Wertevorstellungen basierte der Umgang mit der historischen Bausubstanz auf dem Rigaer Rathausplatz in den letzten ca. hundert Jahren?
- Wie schätzen Sie das gegenwärtige Aussehen des Rigaer Rathausplatzes ein? Welche Botschaft vermittelt es unseren Zeitgenossen?
Weiterführende Literatur
- Krastiņš, Jānis. Riga Town Hall Square: Riga Town Hall Square today, the Town Hall Square in the mirror of recent history, the Statue of Roland, buildings surrounding Town Hall Square. Riga [2010]. (Deutsche Ausgabe: Krastiņš, Jānis. Riga, der Rathausplatz: der Rathausplatz heute, der Rathausplatz im Spiegel, der jüngsten Geschichte, die Rolandstatue, Gebäude rund um den Rathausplatz. Riga [2010];
Russische Ausgabe: Крастиньш, Янис. Рига, Ратушная площадь: Ратушная площадь в наши дни, Ратушная площадь в зеркале новейшей истории, статуя Роланда, здания вокруг площади. Рига [2010]).
- Siliņa, Māra (ed.). Melngalvju nams Rīgā = Das Schwarzhäupterhaus in Riga = The Blackheads House in Riga. Riga [1995].
- Fülberth, Andreas. Riga. Kleine Geschichte der Stadt. Köln, Weimar, Wien 2014.