Mati Laur
Dem Volksmund nach gibt es in der estnischen und lettischen Geschichte verschiedene „Zeiten“: die Dänen-, Ordens-, Polen-, Schweden- und Russenzeit. Die zuletzt genannte, zwei Jahrhunderte umfassende Periode wurde durch die Unterwerfung des Liv- und Estlands unter Rußland im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) eingeleitet. Das Gouvernement Estland bestand aus dem nördlichen Teil des heutigen Staatsgebiets der Republik Estland, die Provinz Livland umfasste den Süden des heutigen Estlands sowie den Norden Lettlands einschliesslich der Stadt Riga. Die russische Staatsmacht, die deutsche Oberschicht mitsamt der hier herrschenden protestantischen Kirche und die Ureinwohnerschaft bestehend aus Esten und Letten, die zumeist Leibeigene waren, schufen zusammen ein buntes und gegensätzliches Bild des Baltikums nach dem Nordischen Krieg. Unter der russischen Herrschaft blieb eine weitgehende Autonomie – „der baltische Landesstaat“ – erhalten, die sich auf die deutschsprachige, lutherische Oberschicht stützte. Es galten weiterhin die unter schwedischer Herrschaft ausgebildete Verwaltungsordnung und die Behördenstruktur.
Bei der Verwaltung des Liv- und Estlands wirkten während des 18. Jahrhunderts zwei gegensätzliche Richtungen: Auf der einen Seite standen die Bestrebungen des deutschbaltischen Adels nach der Aufrechterhaltung und der Ausdehnung des bisherigen status provincialis, auf der anderen Seite trachteten die russischen Behörden nach einer noch intensiveren Integration des Baltikums in das übrige Reich und einer Vereinheitlichung der Verwaltungsordnung.
Mit der Stärkung des Absolutismus während der Regierungszeit Katharinas II. nahm auch der Druck auf den baltischen Landesstaat zu. Die baltische Autonomie geriet an sich in Widerspruch zu den Machtbestrebungen der Kaiserin, die die Einführung einer von aufklärerischen Grundsätzen getragenen Rechtsordnung im ganzen Reich zum Ziel hatten, ohne dabei nationale, religiöse oder geographische Besonderheiten in Betracht zu ziehen. Ab der Regierungszeit Katharinas II. beginnt eine jahrzehntelang dauernde politische Pattsituation zwischen der russischen Zentralregierung und den baltischen Provinzen, wo die Zentralregierung zwar eine engere Integration des Baltikums ins übrige Imperium anstrebt, zugleich jedoch nicht in der Lage ist, die baltische Autonomie radikal aufzuheben.
Johann Gottfried Herder (1744–1803), einer der einflussreichsten Schriftsteller und Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung:
Livland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwissenheit und eines angemaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sklaverei, wie viel wäre in die zu tun, zu tun, um die Barbarei zu zerstören, die Unwissenheit auszurotten, die Kultur und Freiheit auszubreiten.
In Livland habe ich so frei, so ungebunden gelebt, gelehrt, gehandelt, als ich vielleicht nie mehr im Stande sein werde, zu leben, zu lehren und zu handeln.
Katharina II. (1729–1796), seit 1762 Kaiserin von Russland, eine Repräsentantin des aufgeklärten Absolutismus:
Kleinrussland, Livland und Finnland sind von ihrem Charakter her die Provinzen, die nach ihren von uns konfirmierten Privilegien regiert werden. Diese Provinzen durch ein plötzliches Nichtanerkennen der Privilegien zu verletzen, wäre ausgesprochen taktlos. Sie als ausländisch zu bezeichnen und mit ihnen dergestalt umzugehen würde einen noch größeren Fehler und eine komplette Dummheit darstellen. Diese Provinzen muss man auf die einfachste Art und Weise dahin bringen, dass sie russisch werden (obruseli), und aufhören, wie die Wölfe in den Wald zu schauen.
Sie haben deutsche, polnische und schwedische Gesetze, und sie können es doch nicht leugnen, daß die Richter die Gesetze gedreht haben, wie sie es gewollt, jetzo aber sollen Sie Gesetze bekommen, die deutlich und rein sind, womit ein Jeder zufrieden sein wird, und solche Gesetze, wie Sie noch nie bessere gehabt haben, noch bekommen können, und ich hoffe, daß Niemand hierinnen Hinderung machen wird.
Dass aber die livländischen Gesetze besser sein könnten, als die unseren, sei unmöglich; denn unsere Grundsätze seien von der Menschenliebe selbst geschrieben; sie könnten derartige Grundsätze nicht aufweisen, und einige ihrer Gesetze seien erfüllt von Unbildung und Barbarei (...) Wenn sie da feierlich einen Vorbehalt aussprechen, so bitten sie damit: wir wollen, dass man bei uns die Todesstrafe beibehalten soll, wir bitten um die Folter, wir bitten dass unsere Rechtsprechung durch unaufhörliche Ränke nie zum Ziele gelange; wir behalten uns feierlich die Widersprüche und Unklarheiten unserer Gesetzgebung vor u.s.w. Da möge doch die aufgeklärte Mitwelt über solche Tollheit urtheilen.
Das neue oktroyierte Recht enthielt egalitäre Tendenzen, weil es Nationalitätendifferenz ignorierte und den sozialen Untersichten Aufstiegsmöglichkeiten einräumte. Es war ansatzweise demokratisch, weil es die Basis der städtischen Selbstverwaltung verbreitete und die sich selbst ergänzende und lebenslang fungierende Stadtobrigkeit durch befristet gewählte Funktionsträger ersetzte.
Die neuen Behörden funktionierten zufriedenstellend (…) Von einer sozialen Umwälzung konnte keine Rede sein, zumal wirtschaftliche Machtpositionen in Frage gestellt waren. Die rechtliche Gleichstellung der Undeutschen scheiterte teils am Unwissen und Desinteresse der Betroffenen, teils durch Manipulation der Gesetze. Das Eigengewicht eines in Jahrhunderten gewachsenen Herrschaftssystems hätte nur in größeren Zeiträumen aufgehoben werden können.