2.5 Die baltischen Kreuzzüge

Juhan Kreem, Anders Fröjmark, Jörg Hackmann

Im 13. Jahrhundert erlebten die Gebiete an der östlichen Ostseeküste eine tiefgreifende Transformation. Kreuzritter aus dem Westen eroberten und christianisierten viele der dort lebenden Stämme und gründeten neue mittelalterliche Staatsgebilde, die heute als Livland und Preußen bekannt sind.

Während Preußen im Verlauf der Jahrhunderte fast völlig germanisiert wurde, blieben die deutschen Siedler in Livland eine Minderheit. Die eingesessenen ethnischen Gruppen behielten ihre Identität, gewannen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Stärke und gründeten schließlich moderne Nationalstaaten.

Unsere Sicht auf die Kreuzzüge ins Baltikum hängt von vielen Faktoren ab. So kann das Studium mittelalterlicher Chroniken bei unterschiedlichen Lesern zu diametral entgegengesetzten Deutungen führen. Der deutsch-baltische Adel betrachtete die Kreuzzügler als seine Vorfahren, und auch wenn er sie nicht direkt glorifizierte, versuchte er doch, das Handeln der Eroberer zu verstehen und zu rechtfertigen. Erst in der Aufklärung entstand eine Kritik an den Kreuzzügen, die mit der Ablehnung des Ancien Régimes assoziiert wurde. Aus Sicht der Esten und Letten ist die Identifikation mit den heidnischen Stämmen ein wichtiger Teil ihres Geschichtsverständnisses, sodass dieselben Kriege (die baltischen Kreuzzüge) in der estnischen und lettischen Geschichtsschreibung auch als „der Freiheitskampf“ bekannt sind.

Obwohl die Kreuzzüge nach Finnland weniger umfangreich waren, hat der Widerstand der örtlichen Bevölkerung gegen die Eroberer aus dem Westen in der finnischen Geschichtsschreibung seinen festen Platz. Lalli, der Finne, der Bischof Heinrich von Uppsala tötete, wurde als Nationalheld gefeiert; Heinrich wurde wegen seines Martyriums zu einem katholischen Heiligen – und zum Schutzheiligen Finnlands.

Die deutsche und polnische Wahrnehmung des Deutschen Ordens und seines Herrschaftsgebiets in Preußen sind vom Nationalkonflikt des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt. Gestritten wird unter anderem darüber, ob der Orden im frühen 13. Jahrhundert Dokumente gefälscht hat, um Anspruch auf das Gebiet Preußen erheben zu können, und ob der Orden das Gebiet zivilisiert oder mit Gewalt erobert hat. Auch des Siegs der polnisch-litauischen Armee über die Armee des Deutschen Ordens bei Tannenberg/Grunwald/Žalgiris im Jahr 1410 wurde am Ende des 19. Jahrhunderts (Gemälde Jan Matejko), im Ersten Weltkrieg (deutscher Sieg bei Tannenberg) und in der Nachkriegszeit (Spielfilm Krzyżacy – deutscher Titel: Die Kreuzritter – von A. Ford, 1960) auf unterschiedliche Weise gedacht.

Die Frage, wie viel Zwang bei der Europäisierung des Ostseeraums im Spiel war, wurde von 1996 bis 2009 erneut in dem internationalen Forschungsprojekt „Kulturkonfrontation oder Kompromiss“ am ehemaligen Hochschulkolleg Gotland (heute Universität Uppsala, Campus Gotland) unter Leitung von Professor Nils Blomkvist untersucht. Dieses Projekt war als Reaktion auf die neue politische Situation im Ostseeraum entwickelt worden, führte zu einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen und schuf Forschungsnetzwerke, die zum Teil bis heute Bestand haben.

Der Maler Ludwig von Maydell (1795–1846 ) war einer der wichtigsten Vertreter der Romantik im Baltikum. Er entstammte einer großen deutsch-baltischen Familie und studierte Kunst in Berlin, Dresden, Stuttgart und Rom. Nach seiner Rückkehr nach Tartu gründete er die erste Werkstatt für Holzschnitte im russischen Reich. Sein Interesse für Geschichte mündete in einer sehr einflussreichen Reihe von Holzschnitten über das mittelalterliche Livland.

Ehe wir ihn [den Geschichtsschreiber] aber erzählen lassen, möchte hier noch der Ort sein, ein öfters von falschverstandener Philantropie ausgestelltes Bedenken aus dem Wege zu räumen, das mit der Frage: „welches Recht die Fremdlinge hatten, sich hier anzusiedeln, und sich überhaupt in die Angelegenheiten der Urbewohner zumischen?“ jenen ein großes Unrecht aufzubürden meint. Dagegen kann nur erwiedert werden, daß die Cultur nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung habe, die Barbarei zu bekämpfen und zu vertilgen, weil diese, als eine Folge der Sünde, eine Erniedrigung des Menschengeschlechtes und eine Schmach vor Gott sei. Die Weise aber, auf welche dieses geschehen ist, wird von der Reinheit der Cultur oder der ihr selbst noch anklebenden Barbarei abhängen, und einem Gerichte unterliegen, dem wir nicht vorgreifen dürfen, da wir uns selbst noch dort werden zu verantworten haben. Der Bildungsprozeß, bei uns so wenig als im übrigen Europa und der Welt überhaupt, ist noch nicht geschlossen, und es kann wenig frommen, von gegenwärtigem Standpunkte aus, vorschreiben zu wollen, was vor 600 Jahren hätte geschehen sollen; besser ists, sine studio et ira, zuzusehen, was damals wirklich geschah, und zu begreifen zu suchen, warum es geschehen mußte, um daraus für unsere Zeit, deren Zukunft wir nicht kennen, brauchbare Lehren zu gewinnen.
- Ludwig von Maydell. Erklärender Text zu den fünfzig Bildern aus der Geschichte der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands . Dorpat, 1839. S. 1-2.
Der Text wurde aus dem deutschen Original zitiert: https://dspace.ut.ee/handle/10062/51556


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Garlieb Helwig Merkel (1769–1850), Sohn eines livländischen Pastors, war Hauslehrer, Sekretär, Schriftsteller und Herausgeber. Besonders bekannt ist er für seine kritischen Werke über die Leibeigenschaft in den baltischen Provinzen. Im Geist der Aufklärung erforschte er die ursprüngliche Lebensweise der baltischen Völker im goldenen Zeitalter ihrer Länder, bevor diese erobert und christianisiert worden waren. Über den Deutschordensritter Goswin von Aschenberg, der 1428 die Gesandten des Bischofs tötete, schrieb Merkel:

Da hat man in einem kleinen Probestücke das vollständige Gemälde des Rittergeistes, [ ... ]. Standesstolz, Grausamkeit und kecke, straflose Unverschämtheit waren zu allen Zeiten seine Bestandtheile. Wer will, setze Selbstgefühl, Kraft und männliche Freimüthigkeit an die Stelle jeder Worte: die Sache wird dadurch nicht verändert.
- Garlieb Helwig Merkel. Die Vorzeit Lieflands. Ein Denkmahl des Pfaffen- und Rittergeistes, Zweiter Band. 1799. S. 242-243.
Zitat aus dem deutschen Original: https://archive.org/details/bub_gb_O1BbAAAAQAAJ/page/n263

Der livländische Lehnsherr und baltische Adlige Astaf von Transehe-Roseneck (1865–1946) lebte 1918 in Berlin. Nach der Landreform und der Auflösung der Landgüter verließ er das Land und ließ sich in Mecklenburg nieder. Seine Hauptwerke als Historiker konzentrieren sich auf die Rechtsgeschichte der baltischen Länder und die Genealogie des baltischen Adels.

Man bedenke die Lage und das Leben derselben: losgelöst von der fernen Heimath im fremden, unwirthlichen Lande, ewig in Harnisch und Sattel, umgeben von steter Gefahr, bedroht von äusseren Feinden, auf beständiger Hut vor den heimtückischen Eingeborenen, auf sich allein angewiesen, keiner andern Hülfe gewärtig, als von der eigenen Stärke und Entschlossenheit; welch´ eine rauhe Schule von Blut und Eisen! Was Wunder, wenn dieses trotzige Geschlecht sich nicht vor fremden Willen zu beugen verstand. Männer der That, wie es die livländischen Vasallen waren, hielten sie nicht viel von den abstracten Gewalten des Kaisers und des Papstes. Höchst charakteristisch hierfür ist das Wort eines livländischen Ritters aus dem ersten Viertel des 15.sec., Dietrichs von Vietinghoff, das er dem Bischofe Caspar von Oesel ins Gesicht sagte: alle die land sind bezwungen ohne Papst und Kaiser, von diesen weiss man in den Landen wenig zu sagen.
- Astaf von Transehe-Roseneck. Zur Geschichte des Lehnswesens in Livland . In: Mitteilungen, Band 18. Riga, 1908. S. 1–309, S. 225–226.
Zitat aus dem deutschen Original: https://www.difmoe.eu/d/view/uuid:2e0e3197-99dd-4561-b2ba-c820b7890e1d?page=uuid:3bf85725-b590-4b47-8ab1-af4130ac7604

Hans Kruus (1871–1976) gilt als der Gründer der estnischen Geschichtsschreibung als wissenschaftlicher Disziplin. Er war leitender Redakteur des mehrbändigen Werks „Grundriss der Geschichte des estnischen Volkes“, das in den 1930er Jahren herausgegeben wurde. Kruus gehörte zeitlebens der politischen Linken an, trat 1940 in die kommunistische Partei ein und verbrachte den Großteil des Zweiten Weltkriegs hinter der russischen Front. Nach dem Krieg fiel er, wie so viele andere, den stalinistischen Säuberungen zum Opfer.

Die Unterwerfung der Esten unter die fremde Gewalt wurde für das Schicksal des Volkes entscheiden auf Jahrhunderte hinaus. Dem nationalen Organismus, dessen Entwicklung gegen Ende der Selbständigkeitsperiode ein besonders schnelles Tempo aufwies, wurde mit dem Verlust der politischen Unabhängigkeit die Lebensader durchgeschnitten. Aus einem unter günstigen Prämissen sich entwickelnden Subjekt wurde ein von fremden Mächten regiertes Objekt, das auf die Out of this subjected mass there could not rise the circles who could foster national culture. Under such conditions, the cultural fabric of the Estonians now with a sharply-defined democratic character, as proved by the archaeological excavations, was not stimulated by any foreign ideas. The new order of the ruling class could not offer any, as it lived apart from the Estonian people. During this transition from independence to servitude, the country lost its creativity and the opportunity to be vibrant. The national culture of the Estonians was paralysed for centuries until the second half of the 19th century when, during the period of national renaissance, there was a renewed upsurge of self- determination.
- Hans Kruus. Grundriss der Geschichte des estnischen Volkes. Tartu, 1932. S. 15.
Die erste deutsche Besatzung, die unser Land über Jahrhunderte entscheidend beeinflusste, erfolgte im 13. Jahrhundert und endet erst nach dem langen, gewaltsamen und verzweifelten Kampf unserer Vorväter um die Freiheit unseres Landes. Dieser Kampf zeigt in aller Deutlichkeit die Grausamkeit der deutschen Eroberer. Getrieben von Gier und ihrem wilden Wunsch, das freie estnische Volk auszuplündern, zu unterwerfen und zu versklaven und ihr Herrschaftsgebiet nach Osteuropa auszudehnen, der später als der berüchtigte deutsche „Drang nach Osten“ bekannt wurde, fingen diese deutschen Ritter, Barbaren zu Pferde, an, Estland mit Feuer und Schwert zu überziehen und zu plündern. Dieser blutige Raubzug und Versuch, die Esten zu versklaven, traf beim freiheitsliebenden estnischen Volk auf heftigen Widerstand. Nach zwanzig Jahren erbittertem und hin- und herwogendem Krieg, gelang es den Deutschen schließlich, den Willen und den heldenhaften Widerstand der Esten zu brechen.
- Hans Kruus. “Eesti rahva võitlusest saksa okupantidega minevikus” (1942). In: Koos oma rahva ajalooga Suures Isamaasõjas. Tallinn, 1971. S. 31–51, hier S. 31– 32.

Heinrich von Treitschkes Essay wurde unter dem Titel „Das Deutsche Ordensland Preußen” im Jahr 1862 veröffentlicht und markiert eine deutliche Hinwendung zum deutschen Nationalismus, der Anspruch auf die Gebiete erhebt, die einst zum Staatsgebiet des Deutschen Ordens gehörten, und den „faulen“ slawischen Nationen eindeutig negativ gegenüber steht. Der Text stimulierte polnische Gegennarrative über die verräterischen und grausamen Taten der Deutschordensritter.

So ward das Weichseltal in die Geschichte eingeführt und das neue Deutschland gegründet – trotz aller politischen und militärischen Gemeinschaft im schroffsten Gegensatze zu der Eroberung der Länder am Dünabusen. Fassen wir in wenigen Sätzen die Charakterzüge der Kolonisation Preußens und der heutigen russischen Ostseeprovinzen zusammen, welche allein schon den Abstand ihrer späteren Geschichte erklären. Preußen ward germanisiert, doch in Kurland, Livland, Estland lagerte sich bloß, eine dünne Schicht deutscher Elemente über die Masse der Urbewohner. Zur See, in geringen Scharen, kommen die Deutschen ins Land, finden ein litauisch-finnisches Mischvolk, das den Fürsten von Polozk Zins zahlt, treten an die Stelle dieser fremden Herren und verteilten den Boden an den Orden, die Kirche, eine geringe Zahl von Kreuzfahrern und an das Patriziat der wenigen Städte. – So trug diese Pflanzung von vornherein einen einseitig aristokratischen Charakter. Von deutschem Bauerntum nur geringe Spuren, um so schwächer, je weiter nach Osten. Eigentümliches bürgerliches Leben entwickelte sich allein in Riga, Dorpat, Reval; die anderen Städte blieben stille Landstädte, ganz Kurland besaß keine einzige Stadt von selbständiger Bedeutung.
Noch ein anderes hochwichtiges Verhältnis lag günstiger im Westen. Preußen war eine Kolonie des gesamten Deutschlands. Seine Städte sind Pflanzungen der Osterlinge, daher, wie überall in der Hanse, die Sprache ihrer Gemeindebücher und Handelsbriefe niederdeutsch, die Silberwährung Nordeuropas alleinherrschend, der Handel streng beschränkt auf die den Niederdeutschen vorbehaltenen nordischen Gebiete, der ganze Zug des bürgerlichen Lebens kühner zugleich und roher als in den oberdeutschen Städten […].
- Heinrich von Treitschke. Das Deutsche Ordensland Preußen. Ausgewählte Schriften. Erster Band – Kapitel 3 Verlag von S. Hirzel, 1923 S. ?? .

Der estnische Maler Richard Sagrits (1910–1968) hat an den Kunsthochschulen von Tallinn und Tartu studiert. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er in Jaroslawl hinter der russischen Front, wo viele estnische Künstler lebten. Sagrits wird vor allem wegen seiner Landschaftsbilder geschätzt, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren malte er aber auch eine Reihe von Schilderungen der Frühgeschichte Estlands und der mittelalterlichen estnischen Geschichte.

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Bernhard Borchert (1862–1945) wurde in Riga geboren. Er studierte Kunst in Sankt Petersburg und arbeitete nach seiner Rückkehr nach Riga als Maler, Illustrator und Lehrer. 1919 verließ er Lettland und ließ sich in Berlin nieder.

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Fragen zur Reflexion

  1. Mit wem sympathisieren die Autoren der zitierten Quellen? Warum? Gibt es Unterschiede zwischen Quellen, die vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Krieges entstanden sind (zum Beispiel zwischen den Quellen 4 a und b)?
  2. Welche Rolle spielte das Rittertum für die Kreuzzüge ins Baltikum? Wie werden die Ritter von den jeweiligen Autoren dargestellt?
  3. Einige der Quellen behandeln das Recht eines Landes, andere Länder zu erobern. Denkst du, dass es Umstände gibt, unter denen ein Land das Recht hat, ein anderes Land zu erobern? Welche Umstände wären das?


Weiterführende Literatur

  1. Nils Blomkvist. „12th–14th Century European Expansion and its Reception in the Baltic North: Summing up the CCC Project.“ (Die Europäische Expansion vom 12. bis zum 14. Jahrhundert und deren Rezeption im baltischen Norden. Zusammenfassung des CCC-Projekts). In: The Reception of Medieval Europe in the Baltic Sea Region: Papers of the XIIth Visby Symposium held at Gotland University, Visby. Hg von Jörn Staecker. Visby, Gotland University Press, 2009. S. 431–484.
  2. Hartmut Boockmann. Der Deutsche Orden: zwölf Kapitel aus seiner Geschichte. München, 1981.
  3. Crusading and chronicle writing on the medieval Baltic frontier: A companion to the Chronicle of Henry of Livonia (Mittelalterliche Kreuzzüge und Chroniken an der Grenzen zum Baltikum. Ein Begleittext zu Heinrichs Livländischer Chronik). Hg. von Marek Tamm, Linda Kaljundi, Carsten Selch Jensen. London, Routledge, 2011.
  4. Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Hg. von Georg von Rauch. Köln, Wien, 1986.
  5. Marek Tamm. „History as Cultural Memory: Mnemohistory and the Construction of the Estonian Nation“ (Geschichte als kulturelles Gedächtnis. Gedächtnisgeschichte und die Konstruktion der estnischen Nation). In: Journal of Baltic Studies, 39, 2008. S. 499–516.