Michael Meichsner
Redakteure: Anders Fröjmark und Janet Laidla
1361 eroberte der dänische König Waldemar IV. Atterdag Gotland. Damit wurde die Insel für die nächsten knapp 300 Jahre Teil des dänischen Königreiches. Dieser Vorgang bestimmte über lange Zeit die Beziehungen zwischen Dänemark und Schweden.
Am 22. Juli 1361 ging Waldemar IV. mit seinen Truppen an der Südwestküste der Insel an Land. An den folgenden Tagen kam es zu einigen kleineren Auseinandersetzungen zwischen Waldemars kampferprobten Söldnern und den eher schlecht gerüsteten gotländischen Bauern. Der dänische König war auf seinem Weg nach Visby jedoch nicht aufzuhalten. Visby war damals die einzige Stadt der Insel – stark befestigt und wohlhabend durch seine Handelsbeziehungen in den gesamten Ostseeraum.
Der 27. Juli 1361 war vermutlich ein heißer Sommertag, als sich ein versammeltes Aufgebot der gotländischen Bauern vor den Stadtmauern Visbys den dänischen Invasionstruppen entgegenstellte. Wie groß die beiden Heere waren, ist nicht überliefert. Schätzungsweise konnten die Gotländer zwischen 3.000 und 5.000 Mann mobilisieren und Waldemar IV. ca. 2.500 Mann auf die Insel bringen. Eventuell wurden auf den Schiffen auch 150-200 Pferde mitgeführt. Spätere Quellen überliefern, dass in der entscheidenden Schlacht vor Visby ca. 1.800 Bauern den Tod fanden. Die Stadtbewohner scheinen nicht in die Kämpfe eingegriffen zu haben und dem siegreichen dänischen König nach Verhandlungen die Stadttore geöffnet zu haben. Waldemar IV. blieb mit seinen Truppen noch bis Ende August auf Gotland und verheerte die Landgemeinden.
Im Jahr 1362 begann Waldemar sporadisch den Titel „König der Goten“ als Teil seiner Königstitulatur zu benutzen. Erst 1972, lange nachdem die Insel wieder schwedisch geworden war, gab das dänische Königshaus diesen Titel auf.
Seit 1984 besuchen jeden August in der 32. Woche des Jahres Zehntausende Touristen, Geschichtsbegeisterte und Reenacter die „Medeltidsveckan“ (Mittelalterwoche) auf Gotland und Visby erscheint wie eine Stadt des 14. Jahrhunderts. Als Anlass die Woche zu veranstalten, wählte man 1984 die Einnahme der Stadt durch Waldemar Atterdag, was verdeutlicht, wie lebendig die Erinnerung an dieses Ereignis weiterhin war. Über die Jahre entwickelte sich die „Medeltidsveckan“ zu einer der größten Kulturveranstaltungen mit Mittelalterbezug in Europa. Einer der Höhepunkte zum 650. Jubiläum der Eroberung Gotlands war 2011 das Nachspielen der für die Gotländer so dramatischen Schlacht. 2013 konnte dieses Spektakel wiederholt werden.
Auch in Dänemark ist das Ereignis nicht in Vergessenheit geraten. Margarete II. von Dänemark erhielt 1990 zu ihrem 50. Geburtstag eine Serie von elf Gobelins geschenkt, die ihr zu ihrem 60. Geburtstag im Jahr 2000 überreicht wurden. Diese neugefertigten Bildteppiche verbildlichen eine moderne Interpretation der dänischen Geschichte. Die Darstellung zum Spätmittelalter zeigt neben dem rotgewandeten Waldemar Atterdag im Bildzentrum auch die abstrahierte Stadtmauer Visbys. Mit seiner rechten Hand verweist der König auf die Stadtmauer – ohne weitere Wertung wird auf die Einnahme der Stadt Bezug genommen.
Vgl. die Präsentation der Gobelins auf der Homepage des Künstlers:
Eine der interessantesten Quellen bezüglich dieser Ereignisse findet sich ca. 500 Meter vor der südöstlichen Stadtmauer Visbys. Um 1380 wurde ein Gedenkkreuz für die Gefallenen Gotländer errichtet. Auf dem Kreuz findet sich neben einer Darstellung Jesu Christi die lateinische Inschrift:
Das Kreuz steht fernab der von Touristen durchströmten und von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannten Altstadt von Visby.
Nur wenig zeitgenössische Quellen berichten über die Schlacht vor den Stadttoren Visbys und die Einnahme von Stadt und Insel durch Waldemar Atterdag.
Die Seeländische Chronik aus den 1360er Jahren berichtet, dass Waldemar drei große Schlachten schlagen musste und ohne größere Verluste die Insel eingenommen habe, wobei unzählige Inselbewohner den Tod fanden. Der Lübecker Chronist Detmar berichtet in den 1380er Jahren, Waldemar sei nach Gotland gezogen, um in den Besitz der Reichtümer der Insel zu gelangen. Beide Chroniken bezeugen, die Einwohner Visbys hätten sich ohne Kämpfe ergeben.
Im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts schloss ein unbekannter Franziskanermönch in Visby seine Chronik ab. Hier finden wir den frühesten ausführlichen Bericht über die Geschehnisse im Jahr 1361: Waldemars Truppen landeten am 22. Juli auf Gotland, am 26. Juli kam es zu einer großen Schlacht vor den südlichen Stadttoren Visbys und 1800 Bauern fanden dabei den Tod. Visby konnte der König nach Verhandlungen einnehmen.
In der schriftlichen Überlieferung des 16. und 17. Jahrhunderts rückte verstärkt Waldemars Umgang mit Visby in den Vordergrund und der Kampf der Bauern geriet zunehmend in Vergessenheit.
Der dänische Chronist Arild Huitfeldt berichtet um 1600, Waldemar hätte abgelehnt, nach der Aufgabe der Stadt durch die Stadttore in Visby einzuziehen. Vielmehr hätte er angeordnet, eine Bresche in der Stadtmauer schlagen zu lassen. Der König hätte derart wie ein Eroberer in die Stadt einziehen können. Hans Nielsson Strelow schreibt in der ersten umfassenden Chronik Gotlands aus dem Jahr 1633 über die Plünderung Visbys: Auch er erwähnt die Schleifung der Stadtmauer. Weiterhin hätte Waldemar gefordert, dass binnen drei Tagen drei der größten Ölfässer der Stadt mit Gold und Silber gefüllt werden sollten. Andernfalls würde der König die Bestätigung der Handelsprivilegien der Kaufleute in Dänemark verweigern. Dies war ein wirkmächtiges Druckmittel gegenüber den Visbyer Kaufleuten. Nicht überraschend berichtet Strelow, dass die Fässer noch am selben Tag mit den Reichtümern der Stadt gefüllt waren. Beide Chroniken heben das Verhältnis von Waldemar Atterdag und den Bürgern Visbys hervor – der Kampf der Bauern war nicht mehr Teil einer allgemeinen Erinnerungskultur und die Plünderung der Stadt rückte in den Vordergrund.
Ob sich dies wirklich so zugetragen hat, muss bezweifelt werden. Fakt ist, dass Waldemar am 29. Juli die Privilegien und verschiedenen Rechte der Stadt urkundlich bestätigte. Ob dies mit einer Plünderung der Stadt einherging, ist aus den zeitgenössischen Dokumenten nicht zu ermitteln. Die Bestätigung von Privilegien, auch von anderen Handelsstädten, ließen sich die Könige und Fürsten gern teuer bezahlen. So berichtet zum Beispiel der Franziskanermönch aus Visby, dass Waldemar IV. die Insel nach einem Monat verließ und dabei Schätze von der Stadt und dem Land mitführte. Wir können also davon ausgehen, dass auch die Bürger in Visby ihren Tribut nach der Eroberung zu bezahlen hatten.
Der schwedische Künstler Carl-Gustav Hellqvist setzte die überlieferten Erzählungen zur Eroberung Visbys 1882 großformatig in Szene. Bis heute ist es die bekannteste Darstellung der Ereignisse von 1361 in Schweden und ist häufig in schwedischen Schulbüchern zu finden. Auf seinem 2 x 3,3 Meter großen Gemälde sehen wir auf den Marktplatz von Visby. Waldemar IV. sitzt zur Rechten auf einem hölzernen Thron, umgeben von Rittern (im Hintergrund erscheinen die dänischen Truppen) und beobachtet, wie die Bürger Visbys drei große Fässer mit Reichtümern füllen. Das Bild nimmt also Bezug auf die Chronik Hans Nielsson Strelows.
Die Umsetzung der Szene entspringt dabei weitestgehend der Phantasie des Künstlers. Der Titel des Gemäldes verweist darauf, dass die Bürger Visbys diese Abgaben entrichten sollten, um der völligen Ausplünderung und Zerstörung ihrer Stadt zu entgehen. Wie bei Strelow erscheinen auch bei Hellqvist die Stadtbürger Visbys als die eigentlichen Opfer des Eroberungszuges Waldemar Atterdags. Über die Jahrhunderte lebte vor allem die Erinnerung an die Leiden der Stadtbewohner weiter – Wahrheit und Mythos verwoben sich zu einem undurchdringlichen Dickicht. In der schwedischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts waren die Ereignisse durch verschiedene populäre Geschichtsbücher weitverbreitet. Gotland wurde als Teil Schwedens mit einer besonderen und langen Geschichte wahrgenommen.
Spätmittelalterliche Berichte über Truppenstärken und Opferzahlen sind häufig stark übertrieben. Archäologische Untersuchungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten jedoch zeigen, dass vor den Stadttoren Visbys tatsächlich ein spätmittelalterliches Massaker stattgefunden haben muss.
Bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts kamen im Umfeld des Gedenkkreuzes immer wieder menschliche Knochen zum Vorschein. Diese waren teilweise in stark verwitterte Kettenhauben und Plattenpanzer gekleidet. Seit 1905 wurden unter dem Archäologen Oscar Wennerstein umfangreiche Grabungen durchgeführt. Zunächst kamen über 300 Skelette ans Tageslicht, die überwiegend klare Kriegsverletzungen zeigten. Damit konnten die Inschrift und der Aufstellungsort des Gedenkkreuzes tatsächlich mit dem historischen Ort der Schlacht um Visby verbunden werden. Die Entdeckungen weckten großes internationales Interesse – sogar der Deutsche Kaiser Wilhelm II. besuchte Ende Juli 1905 die Ausgrabungen.
Durch weitere Ausgrabungen konnten bis 1930 drei Massengräber mit insgesamt 1.200 Skeletten bestimmt werden. Die Angabe von 1.800 Gefallenen scheint daher durchaus realistisch. Die Entdeckungen waren eine Sensation und rückten das gängige Bild der Ereignisse zurecht. Den Blutzoll der Eroberung hatte vor allem die Bevölkerung der Landgemeinden zu entrichten.
Die Ausgrabungen brachten eine Vielzahl einmaliger Funde zu Tage, die auf Grund der Schlacht um Visby fast auf den Tag genau zu datieren sind – ein Panorama einer spätmittelalterlichen Schlacht lag den Forschern zu Füßen. Das internationale Interesse riss dabei nicht ab, illustrieren die Funde doch eindrücklich die spätmittelalterliche Bewaffnung im Ostseeraum. Die Funde befinden sich heute im Regionalmuseum Gotlands „Gotlands Fornsal“ und dem historischen Museum in Stockholm, dem „Historiska Museet“.
Über die Jahrhunderte hat sich der Fokus von den freien Bauern zu den Bürgern Visbys und heute zurück zu der Niederlage der unterlegenen Bauern verschoben. Das Steinkreuz von Korsbetningen zeigt eindrücklich den sehr frühen Beginn einer Erinnerungskultur auf Gotland für die Opfer der Schlacht. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass in der Nähe des Ortes Mästerby von den Zeitgenossen ein weiteres Steinkreuz errichtet wurde. Dieses steht für eine weitere Schlacht des dänischen Heeres mit den gotländischen Bauern auf dem Weg Waldemar Atterdags gen Visby.
Durch die zahlreichen archäologischen Funde bei beiden Steinkreuzen erhalten wir einen detailreichen Einblick in einen spätmittelalterlichen militärischen Feldzug im Ostseeraum.
Sowohl in Schweden als auch in Dänemark ist die Eroberung Gotlands 1361 weiterhin präsent. Es geht jedoch heute nicht mehr, wie in früheren Jahrhunderten, um die Glorifizierung der jeweils eigenen Geschichte, sondern um einen neutralen Blick auf die gemeinsame Geschichte.
In den letzten Jahren sind es überwiegend Ausstellungen und Fernsehdokumentationen, die einer breiten Öffentlichkeit diese Ereignisse nahebringen. Besonders in Schweden wird dieser historischen Episode dabei Aufmerksamkeit zu Teil. Das Museum „Gotlands Fornsal“ eröffnete 2011 einen eigenen Ausstellungsbereich zur Einnahme Gotlands 1361. Im „Historiska Museet“ wird seit Ende März 2014 ein eigener Bereich der Dauerausstellung diesem Thema gewidmet. Unter dem Titel "Massakern vid muren – slaget om Gotland 1361" (Das Massaker an der Mauer – die Schlacht um Gotland 1361) wird aus politischer, wirtschaftlicher und kulturhistorischer Perspektive der Feldzug Waldemar Atterdags beleuchtet. Untersuchungen an den Skeletten konnten zeigen, dass dänische und gotländische Opfer in den Massengräbern bestattet wurden – die Ausstellung zeigt Opfer beider Seiten.
Das 2014 neugestaltete Burgenzentrum im dänischen Vordingborg veranschaulicht insbesondere die Geschichte der Macht in Dänemarks Mittelalter. Auch auf die Eroberungen Waldemar Atterdags wird Bezug genommen, indem Skelette aus den Ausgrabungen vor Visby gezeigt werden. Thematisch sind die Objekte dem Abschnitt Krieg im Mittelalter zugeordnet. Durch die Objektauswahl wird die Verbindung zwischen den skandinavischen Ländern aufgezeigt, deren Ursprünge weit zurück in der Vergangenheit zu suchen sind.