2.16 Das Erbe der Gutshöfe in der Ostseeregion

Herle Forbrich, Ewa Romanowska, Janet Laidla, Anne Sørensen

Gutshöfe, also die repräsentativen Wohnhäuser landwirtschaftlicher Anwesen, sind in Deutschland typisch für die Gebiete östlich der Elbe; es gibt sie aber überall rund um die Ostsee. Die Landgüter waren durch Familienbande und Geschäftsbeziehungen miteinander verbunden; die Gutshöfe wurden zu wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Zentren in den ländlichen Gegenden. Diese Organisationsstruktur hat sich vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit entwickelt. Um 1800 hatte die Gutswirtschaft ihren Höhepunkt erreicht, bis erste Gesetze in Kraft traten, die die Landarbeiter von der Zwangsarbeit befreiten. Trotz dieser sozialen Veränderungen konnten die Gutsherren ihre Macht in den ländlichen Gegenden bis zu Beginn des 1. Weltkriegs mehr oder weniger erhalten.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts bestand in der Ostseeregion ein Netzwerk aus Tausenden solcher Landgüter. In ihrem Zentrum standen die Herrenhäuser, die Wohnsitze der Gutsherren, die Familiengeschichte, soziale Ordnung und Tradition repräsentierte. Sie wurden allerdings auch zunehmend als Symbole einer Gesellschaft wahrgenommen, in der Ungleichheit und Abhängigkeit herrschten. Im 20. Jahrhundert veränderten Nationalbewegungen, soziale Modernisierung, sozialistische Umbrüche und schließlich ein neues historisches Bewusstsein die Bedeutung dieser Orte.

In diesem Zeitraum durchlebten auch die Landgüter beträchtliche rechtliche und wirtschaftliche Veränderungen. Diese Entwicklung wurde nach dem 1. Weltkrieg durch Landwirtschaftsreformen in Estland, Lettland und Litauen eingeleitet und spitzte sich nach dem 2. Weltkrieg noch zu, vor allen in denjenigen Ländern der Ostseeregion, die unter Sowjetherrschaft oder unter den Einfluss der UdSSR gerieten. Einige Herrenhäuser verloren beispielsweise ihre traditionelle Funktion als Familiensitz. In Deutschland und Skandinavien blieben die Herrenhäuser dagegen in Privatbesitz und wurden traditionell genutzt. Doch auch hier machten wirtschaftliche Veränderungen Anpassung notwendig, sodass zum Beispiel Familien ihre privaten Gebäude einem allgemeinen Publikum für Führungen und Veranstaltungen öffneten.
Herrenhäuser rund um die Ostsee sind heute vergleichbaren wirtschaftlichen Veränderungen ausgesetzt und die Vermarktung der Häuser, die für verschiedene Anlässe und Veranstaltungen, wie Hochzeiten, gemietet werden können, sowie ihre Nutzung für den Tourismus hat zugenommen. Gleichzeitig haben viele Länder seit den 1970er Jahren Gesetze zum Schutz historischer Denkmäler erlassen. Seitdem werden die Gutshöfe wieder vermehrt als Kulturerbe gewürdigt. Heute steht jedes Land der Ostseeregion vor der Herausforderung, die Gutshöfe als Kulturgüter zu erhalten.

Zwei Zeichnungen, die die Umwidmung eines Gutshofs illustrieren

Diese Zeichnungen wurden 1969 in der Bildergeschichte „Sonne, sage, wie gefällt dir unser schönes Heimatland“ im Magazin Bummi veröffentlicht. Bummi war in der DDR eine Zeitschrift für Kinder im Kindergartenalter und erschien erstmals 1957.

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Ein beliebtes Lied aus Estland

Dieses Lied mit dem Titel Mässajate laus (Lied der Rebellen, Musik: Uno Nissoo/Text: Paul-Erik Rummo) erklingt im Film Viimne reliikvia (Die letzte Reliquie, 1969). Der Liedtext basiert auf einem Volkslied aus dem Revolutionsjahr 1905, als zahlreiche Gutshöfe in Estland und Lettland niedergebrannt wurden.

Lied der Rebellen
Jeder formt sein eigenes Schicksal.
Und schmiedet das eigene Glück.
Wenn er mit Verbitterung darauf blickt,
Was das Geheimnis dahinter war. Ja!
Die Gutshöfe brennen, die Deutschen sterben,
Der Wald und das Land werden unser sein.
:,: Für uns, ja, für uns // Für uns, für uns, für uns. :,:
Jeder formt sein eigenes Schicksal.
Und schmiedet das eigene Glück.
Wenn er mit Verbitterung darauf blickt,
Was das Geheimnis dahinter war. Ja!
Die Wälder brennen, das Land stirbt,
Wir bekommen uns
:,: Für uns, ja, für uns
Für uns, für uns, für uns. :,:
Jeder formt sein eigenes Schicksal.
Und schmiedet das eigene Glück.
Wenn – Ja! –
Nun! –
Was das Geheimnis dahinter ist! Ja!
Wir brennen, wir sterben,
Dann bleibt kein Sklave übrig,
Kein Sklave, kein Sklave.
Und auch kein Herr
::: Kein Sklave, kein Sklave
Und auch kein Herr!:,:

Gut Bornzin, 1860

Bornzin liegt heute in der polnischen Woiwodschaft Pommern. Der Name des Ortes ist Borzęcino.

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Gemälde von Alexander Duncker (1813-1897), einem deutschen Verleger und Buchhändler. Sein Hauptwerk bestand aus einer Grafiksammlung preußischer Schlösser. Alexander Duncker. Die ländlichen Wohnsitze, Schlösser und Residenzen der ritterschaftlichen Grundbesitzer in der preussischen Monarchie. Band 8. Berlin, Duncker, ca. 1886. Digitalisiert durch die Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 2006. URL: https://digital.zlb.de/viewer/readingmode/14779821_08/187/LOG_0052/.

Grundschule im Gutshof Mäo (Mexhof) in Estland

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Nach der Landreform von 1919 wurden viele estnische Gutshöfe in Schulen umgewandelt. Sie werden teilweise bis heute als Schule genutzt. Mit Unterstützung internationaler Zuschüsse, des Kulturministeriums und des Ministeriums für Bildung und Forschung waren die Schulen in der Lage, einige der Gutshöfe zu restaurieren und darüber hinaus eine Website, Veranstaltungen, Bücher und Arbeitsblätter für diese Schulen zu entwickeln, um deren einzigartiges Lernumfeld zu würdigen. Diese Website bietet einige Informationen auf Englisch: http://www.moisakoolid.ee/en.


Clausholm Slot: Hochzeit im Schloss

1919 wurde in Dänemark ein Gesetz erlassen, durch das der Adel und die Herrenhäuser ihren privilegierten Status verloren. Damit sollten der soziale und wirtschaftliche Status demokratisiert und Gleichheit erreicht werden. Das Gesetz sollte revolutionäre Aufstände wie in Russland und Deutschland verhindern. In den folgenden Jahrzehnten gerieten die Gutshöfe in wirtschaftliche Notlagen und mussten sich neuen Herausforderungen stellen. Etwa seit den 1960er Jahren entstanden für im Privatbesitz befindliche Gutshäuser neue Geschäftsideen aus dem Bereich der Erlebniswirtschaft. Dazu gehören Initiativen zum Kulturerbe, zum Beispiel die Öffnung von Herrenhäusern und Parks für die Allgemeinheit, die Gründung von Museen und die Veranstaltung von Konzerten und Märkten auf dem Gelände. Darüber hinaus sind neue Touristenziele entstanden, zum Beispiel Safariparks und Naturlehrpfade. Seit etwa 2000 gewinnt auch die Nischenproduktion von Lebensmitteln (lokal angebaut, bio, alte Sorten, traditionelle Rezepte usw.) an Bedeutung. Viele Herrenhäuser wurden zu Hotels, Restaurants und Konferenzorten umgebaut und ‚normale Menschen‘ können ein Schloss oder ein Herrenhaus buchen und ‚Herr und Herrin des Hauses‘ werden, beispielsweise bei ihrer Hochzeitsfeier. Der Gutshof Clausholm Slot befindet sich im Privatbesitz und liegt mitten in Jütland, Dänemark.

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Dieser Text stammt von der Website und beschreibt das Angebot für Hochzeiten.

Hochzeit im Schloss. Clausholm Slot bietet einen wunderschönen und historischen Rahmen für Ihre Hochzeit. Neben dem Hochzeitsempfang und der Feier im Veranstaltungsbereich von Clausholm besteht die Möglichkeit, in der Kapelle von Clausholm getraut zu werden. Die Kapelle allein ist eine Attraktion; ihre Lage in der zweiten Etage, mit Blick auf den Park und die Natur, bietet eine fantastische Szenerie für eines der wichtigsten Ereignisse des Lebens.
Die Kapelle im Westflügel des Schlosses bietet Platz für 95 Hochzeitsgäste. Die Trauung wird mit Musik der Kapellenorgel begleitet, die von Organisten aus aller Welt für ihren weichen Klang geschätzt wird. Die Kapelle von Clausholm ist geweiht, hat aber keinen eigenen Priester. Auf Wunsch organisieren wir einen externen Priester und einen Organisten, die die Hochzeit gegen ein Honorar durchführen. Aufgrund der historischen Einrichtung ist es nicht möglich, die Kapelle zu schmücken; das Werfen von Reis ist nicht erlaubt. Sie können zwischen Mai und September in unserer Kapelle heiraten.
Hochzeitsfotos in Clausholm. Viele Hochzeitspaare haben ihre Fotos in der romantischen Umgebung von Schloss und Park machen lassen. Das Gartenzimmer (und einige Zimmer in der zweiten Etage) bieten den Hintergrund für ein klassisches, schönes Hochzeitsfoto. Der Garten und die Brunnen sowie die stattlichen Linden im Hintergrund sorgen für liebliche und natürliche Fotos mit viel Atmosphäre. Während die Fotos gemacht werden, können die Hochzeitsgäste einen schönen Spaziergang durch den Park bis zum Festsaal machen. Wer nicht mehr so gut zu Fuß ist, wird gefahren. Am Ziel wartet ein Aperitif, der die Zeit bis zum Eintreffen von Braut und Bräutigam nahtlos überbrückt.
- Zitiert von der Website von Clausholm Slot, abrufbar https://www.clausholm.dk/

Fragen zur Reflexion

  1. Diskutiere die verschiedenen Aussagen der Quellen über die Gutshöfe im Ostseeraum.
  2. Was erzählt das historische Gemälde von Alexander Duncker über Gutshöfe? Was sagen andere Bilder von Gutshöfen über diese Art Landgüter?
  3. In Estland sind viele Gutshöfe Bildungsinstitutionen. Welche Informationen über diese Entwicklung gibt es und wie sieht die Situation in deinem Land aus? Welche Unterschiede und Ähnlichkeiten kannst du feststellen?
  4. Was ist die Aussage der beiden Zeichnungen? Kennst du ähnliche Bilder aus deinem Land? Mit der Entwicklung der öffentlichen Fürsorge im 19. Jahrhundert wurden alte Gebäude (in Städten) häufig für den öffentlichen Dienst umgenutzt. Die Nutzung von Gutshöfen als Waisenhäuser war also nicht völlig neu. Doch wie war die Situation in Gutshöfen oder anderen alten Gebäuden, die für die öffentliche Fürsorge genutzt wurden, wirklich?
  5. Lies den Text vom „Lied der Rebellen“. Wenn die Möglichkeit besteht, höre dir das Lied an und/oder schaue den Film „Die letzte Reliquie“. Was ist die Aussage? Was denkst du darüber?
  6. Finde mehr über einen Gutshof in deiner Heimatstadt oder in deiner Nachbarschaft heraus. Wie wird er genutzt? Wem gehört er? Wem hat er gehört?
  7. Finde mehr über die historischen Gebäude in deiner Heimatstadt heraus, die nicht ihren ursprünglichen Zweck erfüllen, sondern eine neue Funktion haben. Wird diese neue Funktion allgemein akzeptiert? Spreche mit den früheren und derzeitigen Eigentümern. Was denkst du darüber?


Weiterführende Literatur

  1. Małgorzata Jackiewicz-Garniec, Mirosław Garniec. Pałace i dwory dawnych Prus Wschodnich: dobra utracone czy ocalone? (Paläste und Herrenhäuser im ehemaligen Ostpreußen. Verlorenes oder gerettetes Kulturgut?). Olsztyn, Cultural Community Association „Borussia“, 1999. Olsztyn, Arta, 2001.
  2. Lexikon zu Ermland und Masuren, mit Beschreibungen von 76 historischen Objekte in der Kategorie Paläste und Herrenhäuser (auf polnisch): http://leksykonkultury.ceik.eu/index.php/Kategoria:Pa%C5%82ace_i_dwory