Jörg Hackmann, Janet Laidla, Vitalija Kasperavičiūtė, Anne Sørensen
Nach dem 2. Weltkrieg scheint sich die Geschichte des Alkoholkonsums und des Kampfes gegen den Alkoholismus in der Ostseeregion in verschiedene Richtungen zu entwickeln: Die Länder Nordeuropas wurden von einer strengen öffentlichen Befürwortung der Enthaltsamkeit und der Beschränkung des Alkoholkonsums geprägt, während der Alkoholkonsum im sozialistischen Osteuropa nicht eingeschränkt und teilweise sogar aus politischen Gründen gefördert wurde.
Wenn man jedoch weiter in die Geschichte des Ostseeraums bzw. Europas zurückblickt, erscheint allerdings ein völlig anderes Bild: Tatsächlich war die Herstellung von Wodka aus Getreide schon viel früher zu einer Einkommensquelle geworden und die Nachfrage nach Alkohol mit der Urbanisierung gestiegen.
Die Hungerkrise Anfang des 19. Jahrhunderts sowie die nordamerikanische Abstinenzbewegung (beispielsweise in Alexis de Tocquevilles Beschreibung) beförderten die Idee, dass Menschen keinen Alkohol trinken sollten. Die Anführer dieser Bewegung waren meist Geistliche – protestantische wie katholische und später auch orthodoxe. Freiwillige Zusammenschlüsse galten als angemessene Form der Bewegung; ihre Satzungen orientierten sich an den amerikanischen Vorbildern. In einer ersten Welle wurden Könige und Zaren aufgefordert, entsprechende Verbände zu gründen, doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lösten breitere soziale Gruppen eine zweite, radikalere Welle der Abstinenz aus, die in Nordeuropa von den Guttemplern (IOGT) unterstützt wurde.
1858 gründete der litauische Bischof Motiejus Valančius eine Abstinenzbewegung nach dem Vorbild ähnlicher Bewegungen in anderen katholischen Regionen (zum Beispiel Schlesien). Innerhalb weniger Jahre waren über 80 Prozent der Katholiken des Bistums Mitglieder dieser Abstinenzgesellschaften. Die Litauer hörten auf, Wodka zu trinken, Bauernhöfe wurden wohlhabender, Familien stärker und die Menschen gebildeter.
Die Schweden waren möglicherweise im Kampf gegen den Alkoholverbrauch am radikalsten, obwohl nur die Finnen nach dem 1. Weltkrieg für einige Jahre ein Verbot einführten. Das Alkoholverbot in Finnland scheiterte allerdings. Der illegale Transport von Alkohol in den 1920er Jahren von Estland nach Finnland wurde „Die finnische Brücke“ genannt. In Zeitungen und Zeitschriften wurden viele Karikaturen veröffentlicht, die dieses Phänomen aufs Korn nahmen.
„Die finnische Brücke“ war ein berühmtes Motto in der Zeit der estnischen Nationenbildung. Es bedeutete, dass die Esten dem Vorbild der kulturell und politisch fortschrittlicheren Finnen folgen sollten. Während des Alkoholverbots in Finnland wurde von Estland aus ein großangelegter Alkoholschmuggel organisiert.
Die Situation in den anderen Ländern war von ähnlichen Hindernissen geprägt: Die Versuche den Alkoholverbrauch zu verringern, lösten verschiedene Gegenreaktionen aus. Universitätsstudenten und Alkoholkonsum gehörten in der Regel zusammen. Dennoch war die Abstinenzbewegung unter Studenten der Universität Tartu in den 1920er Jahren einflussreich genug, um bei den offiziellen Veranstaltungen der Studentenvereinigungen den Ausschank von Alkohol zu verbieten. Die Studentenorganisationen leisteten mehr Widerstand, obwohl es Mitglieder der Abstinenzbewegung gab, die die Anzahl der Bierflaschen, die an die verschiedenen Studentenverbindungen geliefert wurden, genau zählten und meldeten.
Ein Mitglied der Abstinenzbewegung, Karl Parek, spionierte die männlichen Studentenorganisationen aus, um herauszufinden, wie viel Alkohol sie verbrauchten, und schrieb seine Abschlussarbeit darüber.
Studentenorganisation | Kisten pro Tag | Kisten pro Monat | Kosten pro Monat | Anzahl Mitglieder | Liter Bier pro Mitglied |
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Estnische Studentengesellschaft | 4.5 | 135 | 540 Kr | ca. 300 | 4l |
Burschenschaft Fraternitas Estica | 1.5 | 45 | 160 Kr | 84 | 5.3 l |
Burschenschaft Sakala | 2.5 | 75 | 300 Kr | 52 | 14.4 l |
Burschenschaft Ugala | 2 | 60 | 240 Kr | 78 | 7.7 l |
Burschenschaft Vironia | 4 | 120 | 480Kr | 93 | 12.9 l |
Die Spannungen zwischen Trunkenheit und Nüchternheit sind auch äußerst politisch. Der erfolglose Kampf des „Mineralsekretärs“ Gorbatschow gegen den Alkoholismus förderte beispielsweise unabsichtlich die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen.
Heute ermutigen einige Mitglieder der neuheidnischen Bewegung in Litauen ihre Mitglieder, jede Art von Alkohol abzulehnen. Sie bestreiten, dass Alkohol Teil der traditionellen litauischen Kultur ist, was zur Uneinigkeit zwischen den Mitgliedern der neuheidnischen Gemeinde führt. Die Mitglieder dieses Ordens versuchen, Bier und Met aus den heidnischen Ritualen zu verbannen.
Auszug aus Johann Heinrich Zschokke. Die Brannteweinpest. Eine Trauergeschichte zur Warnung und Lehre für Reich und Arm, Alt und Jung. Aarau 1837.
In einem halbfiktionalen Text, der die verheerenden Folgen des Alkoholismus hervorhebt, schlägt der Schweizer Schriftsteller Zschokke die Gründung von Abstinenzvereinen als Heilmittel vor und führt die beispielhafte Satzung eines solchen Vereins an, die direkt aus der Fiktion in die Realität übernommen werden konnte. Dies ist nicht verwunderlich, weil Zschokke den Vorschlägen des amerikanischen Pfarrers Robert Baird folgte, der in diesen Jahren mit einigem Erfolg versuchte, die Könige in der Ostseeregion und den russischen Zar zu überzeugen, nationale Abstinenzgesellschaften zu gründen. Auszüge oder sogar ganze Bücher von Baird und Zschokke wurden in viele Sprachen des Ostseeraums übersetzt. In Estland passte F. R. Kreutzwald Zschokke an die Welt der estnischen Bauern an.
Das staatliche Alkoholverbot war seit Ende des 19. Jahrhunderts eine weit verbreitete Forderung der weltweiten Abstinenzbewegungen. Der berühmteste Fall ist der der USA, wo von 1920 bis 1933 ein Alkoholverbot galt. Nach dem Beginn des 1. Weltkriegs wurde aber auch in Finnland, Norwegen und Russland ein Alkoholverbot erlassen. All diese Prohibitions-Gesetze sind allerdings gescheitert. In Schweden ist eine Volksbefragung über ein Alkoholverbot 1922 gescheitert, doch das staatliche Verkaufsmonopol für Alkohol besteht bis heute.
Eines der sozialen Probleme in Verbindung mit der Abstinenz von Alkohol war die Herausforderung, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man auch ohne Alkohol gesellig sein kann, weswegen Abstinenzgesellschaften Kulturprogramme, Ausflüge, Teezimmer, Bibliotheken usw. organisierten.