Anne Sørensen, Christian Pletzing, Janet Laidla
Michael North beginnt seine Geschichte der Ostsee mit der Aussage, diese Region „war und ist eine Zone fruchtbarer Austauschbeziehungen.“1) Caroline Boggis-Rolfe vergleicht in ihrem vor kurzem erschienen Buch Die Geschichte des Baltikums auf interessante Weise die Geschichte der Region mit der Ostsee selbst – manchmal (auch trügerisch) ruhig und dann plötzlich von einem heftigen Sturm aufgewühlt. Das vorliegende Buch handelt von diesen ruhigen und stürmischen Zeiten und führt dabei (wie bei North und Boggis-Rolfe) von der Wikingerzeit bis ins 20. Jahrhundert; anstelle einer durchgehenden Erzählung präsentieren wir jedoch eine Sammlung von Quellen und Standpunkten zu sehr unterschiedlichen historischen Themen mit Bezug zur Ostsee.
Die Idee eines Projekts, das die Geschichte des Ostseeraums aus einer transnationalen Perspektive erforscht, entstand 2009 in Schleswig-Holstein. Die Academia Baltica (Lübeck/Sankelmark) beantragte erfolgreich Fördermittel aus dem Programm „Kultur“ der Europäischen Kommission für die Planungsphase und die Entwicklung des Pilotmoduls „Kulturelle Perspektiven“ ihres Projekts „Baltic Sea History“. Herz des Projekts war der Aufbau einer virtuellen Plattform für die Geschichte der Ostseeregion. Von 2012 bis 2014 arbeiteten 14 Partner aus Wissenschaft, Bildung und Kultur der Ostseeanrainerstaaten gemeinsam an diesem Projekt. Ihr Ziel war es zu zeigen, dass die Geschichte des Ostseeraums mehr ist als die Geschichte der Nationalstaaten an den Ufern der Ostsee. Gleichzeitig wollte das Projekt „Baltic Sea History“ unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven auf die gemeinsame Geschichte der Region vorstellen.
2017 gelang es den Projektpartnern, Fördermittel für die Fortsetzung des Projekts einzuwerben. Das Projekt wird von der Academia Baltica verwaltet, die Projektpartner sind die Technische Hochschule Lübeck, die Universität Szczecin, die Stiftung Borussia in Olsztyn, die Vytautas Magnus Universität in Kaunas, die Universität Lettlands in Riga, die Universität Tartu, die Stadtarchive Tallinn, die Linné-Universität in Växjö und Kalmar und die Universität Aarhus. Das neue Projekt knüpft an das 2012–2014 von der EU geförderte Projekt an. Sein Ziel ist es, die Geschichte des Ostseeraums aus viele unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und so Verständnis für die historischen Narrative der einzelnen Länder zu wecken, die an die Ostsee grenzen. Außerdem soll die Geschichte des Ostseeraums für die Erwachsenenbildung aufbereitet werden, und zwar mit Hilfe von Unterrichtsmaterialien, einem Online-Tutorial und einer Online-Plattform.
Der multiperspektivische Ansatz wurde aufgrund der grundsätzlichen Erkenntnis gewählt, dass jeder Einzelne und jede soziale Gruppe bestimmte Ereignisse und Entwicklungen unterschiedlich erinnert und diese Erinnerungen und ihre Ausdrucksformen sich außerdem mit der Zeit wandeln. Das heißt aber nicht, dass es akzeptabel ist, historische Fakten zu politischen, finanziellen oder persönlichen Zwecken zu manipulieren oder zu fälschen.
Die Einbeziehung vieler Perspektiven bei der Geschichtsvermittlung ist auch mit der Absicht verbunden, nationale, religiöse und/oder kulturelle Gegensätze zu überwinden. Ein multiperspektivischer Ansatz spiegelt wider, dass Geschichte nicht einer autoritativen Erzählung folgt, sondern sich vielmehr aus einem Dialog voneinander abweichender Erzählungen herausschält. Indem man bei der Vermittlung von Geschichte unterschiedliche Standpunkte widergibt, werden historische Ereignisse nicht nur beschrieben, sondern auch deren Bedeutung und Auswirkungen auf die Menschen sichtbar gemacht. Multiperspektivität ist gegeben, wenn nicht nur eine Sicht auf ein Ereignis (oder ein Artefakt, eine Person, einen Ort usw.) präsentiert wird, sondern mehrere. Diese anderen Sichtweisen können aus der Geschichte selbst, aus Wissenschaft, Gesellschaft oder Politik, von Minderheiten oder von unterdrückten Gruppen stammen. Sie zeigen, dass historische Fakten je nach Geschlecht, Alter oder kulturellem Hintergrund unterschiedlich wahrgenommen werden. Dabei können sowohl innerhalb des eigenen Landes als auch in anderen Ländern unterschiedliche Perspektiven entstehen. Das heißt, Multiperspektivität ist ein ganzheitlicher Ansatz, ein Versuch, historische Ereignisse aus einer Vielzahl von Perspektiven in einem größeren Zusammenhang zu betrachten und zu verstehen.
Die Berücksichtigung vieler Perspektiven kann auch zeigen, dass historische Ereignisse – und deren Interpretation – immer durch menschliches Handeln entstehen. Jedes historische Ereignis beruht auf den Entscheidungen von Menschen, die auf der Grundlage von Informationen getroffen wurden. Darum hängt die Qualität der Entscheidung von der Qualität der Informationen ab. Entscheidungen und Interpretationen sind aber auch die Folge von Überzeugungen und vielleicht auch von Wünschen oder Ängsten. Für ein multiperspektivisches Verständnis muss man also nicht unbedingt die eigene Sichtweise aufgeben, sondern lernen, dass es noch andere Sichtweisen gibt. Multiperspektivität bedeutet jedoch in keinem Fall die Anerkennung so genannter alternativer Fakten, die sich nicht auf Quellen und wissenschaftliche Argumente stützen.
Die Geschichte des Ostseeraums ist reich an Beispielen für kontrastierende Sichtweisen auf historische Ereignisse, die sich auf die beteiligten Parteien sehr unterschiedlich ausgewirkt haben und noch auswirken. Der vielschichtige Charakter der nationalen Geschichte der Ostseeländer ist ein fruchtbares Ausgangsmaterial für die Entwicklung multiperspektivischer Ansätze zur Überwindung nationaler und/oder monokultureller Standpunkte. Diese unterschiedlichen Standpunkte drücken sich nicht nur in der geschriebenen Geschichte aus, sondern auch in Form geänderter Straßennamen, versetzter Denkmäler und in der Lebensgeschichte der Menschen.
Es gibt nicht die Perspektive, die jede denkbare Wahrnehmung der Geschichte des Ostseeraums abdeckt. Es liegt auf der Hand, dass die zahlreichen nationalen Perspektiven in der Region fundamentale Unterschiede im Verständnis moderner Gesellschaften und Staaten sowie beim Nachdenken über Geschichte, insbesondere die Geschichte des 20. Jahrhunderts, offenlegen. Dies ist ein weiteres Argument, warum eine historische Multiperspektivität hier besonders fruchtbar zu sein scheint; sie erweitert den jeweiligen Blick auf die Geschichte selbst und auf die unterschiedlichen aktuellen Entwicklungen in der Region.
Kriege und Konflikte waren über Jahrhunderte die beherrschenden Merkmale des Ostseeraums. Wie sich gezeigt hat, ist Multiperspektivität ein wichtiges Instrument zur Überwindung nationaler Konflikte. Nach Konflikten ist es wichtig, aggressive Stereotype über die nationalen „Anderen“ zu bekämpfen und Wissen über die Nachbarn und ehemaligen Feinde sowie über deren Geschichtsverständnis zu vermitteln. Ein derartiger Ansatz kann einen wesentlichen Beitrag zur Aussöhnung leisten. Diese Aufgabe liegt nicht allein bei Regierungen und offiziellen Institutionen, sondern umfasst die unterschiedlichsten Aktivitäten von Privatpersonen und Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Überwindung nationaler Antagonismen war jedoch nicht immer erfolgreich.
Dieses Buch ist eine Sammlung von Lehrmaterialien für den Baltic Sea History MOOC course, es kann jedoch auch eigenständig genutzt werden. Jedes Kapitel enthält einen oder mehrere Einleitungstexte, Beispiele für unterschiedliche Quellen oder Standpunkte, Fragen zur Reflexion und eine kurze Liste mit weiterführender Literatur. Da sich das Buch an eine breite Zielgruppe wendet, haben wir versucht, den jeweiligen Hintergrund ausführlicher zu beleuchten; dies gilt insbesondere für frühere Zeitalter. Es war jedoch nicht möglich, die Geschichte des Ostseeraums in diesem Buch vollständig zu behandeln; daher enthalten die Kapitel Vorschläge für weiterführende Literatur.
Genau wie unterschiedliche Perspektiven auf historische Ereignisse gibt es auch unterschiedliche Methoden, über diese Ereignisse zu schreiben. Deshalb konnten unsere Autorinnen und Autoren frei über die konkrete Gestaltung des Kapitels und die Anzahl und Art der vorgestellten Quellen entscheiden. Es gibt ausführliche Darstellungen von Ereignissen, Monumenten und ganzen Zeitaltern, aber auch kurze Exkursionen zu weniger bekannten Ereignissen oder Denkmälern.
Die Quellen wurden häufig von den Autorinnen selbst übersetzt und obwohl wir uns natürlich bewusst sind, dass auch die Wortwahl einer Übersetzung von der Perspektive des Übersetzers abhängt, haben wir versucht, dem Original treu zu bleiben; um das Verständnis für Nichtmuttersprachler zu erleichtern, haben wir die Texte jedoch in manchen Fällen redigiert. Eine mögliche Aufgabe für Lernende wäre daher, die übersetzten Texte mit den Quellen in der Muttersprache der Lernenden zu vergleichen und subtile Unterschiede aufzuspüren.
Zweifelsohne wird das Verständnis eines historischen Ereignisses immer komplexer, je mehr Perspektiven man berücksichtigt. Dadurch ergibt sich die Frage, wie man ein Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, ohne den Lernenden zu überfordern. Die Relevanz eines multiperspektivischen Ansatzes sollte an einem guten Beispiel erläutert werden, zu dem die Lernenden vorzugsweise einen eigenen Bezug haben. Das Ziel ist es, den Lernenden zu zeigen, warum sich diese zusätzliche Anstrengung lohnt. Dann kann der multiperspektivische Ansatz praktisch erprobt werden, indem die Lehrkraft weitere Perspektiven einführt und ausführlich diskutiert. Die gewählten Perspektiven sollten zusätzliche wichtige Informationen über das historische Ereignis enthalten. Außerdem können Materialien zu weiteren Perspektiven angeboten werden, die interessierte Lernende freiwillig lesen können. Alternativ kann die Lehrkraft die Lernenden bitten, sich für eine Perspektive zu entscheiden, diese herauszuarbeiten und in der nächsten Unterrichtsstunde oder in Form einer Präsentation, eines Videos oder ähnlichem auf einer Lernplattform zu präsentieren. Bei letzterem Verfahren werden die anderen Lernenden gebeten, die Präsentation auf der Plattform vorher anzusehen und die darin vertretenen Perspektiven in der nächsten Unterrichtsstunde ausführlich zu diskutieren (umgedrehter Unterricht) Die Vorbereitung der Quellen kann anhand der folgenden Fragen erfolgen: wer, was, wann, wo, warum. Dabei ist es wichtig, dass die Lernenden die Perspektive nicht nur kennenlernen, sondern sie auch diskutieren und darüber nachdenken, wie sie das Ereignis bisher gesehen haben und wie sich ihre Wahrnehmung durch die zusätzlichen Sichtweisen geändert hat.
Um das Spektrum der Perspektiven zu erweitern, kann man die Lernenden bitten zu versuchen, Quellen historisch stummer Gruppen, wie Sklaven, Bauern oder Arbeiter, zu erstellen. Weil diese Gruppen häufig nicht die Möglichkeit hatten, ihre Überlegungen und Ansichten aufzuzeichnen, gibt es dazu kaum Quellen. Indem sie sich in ein Mitglied dieser Gruppe hineinversetzten und eine Quelle schaffen (z. B. einen Tagebucheintrag), setzen sich die Lernenden mit der Gruppe auseinander. Dies kann zu anfänglichen Irritationen führen, aber auch die Empathie fördern und das Verständnis des Gelernten vertiefen. Natürlich lässt sich Multiperspektivität auf viele unterschiedliche Arten umsetzen. Alle verfolgen jedoch dasselbe Ziel: die Erkenntnis, dass es zusätzlich zur anerkannten Sichtweise noch eine oder mehrere andere Sichtweisen gibt. Wir hoffen, dass sie dieses Buch nützlich und die Behandlung der unterschiedlichen Perspektiven so aufschlussreich, bereichernd und interessant finden, wie unsere Autorinnen und Autoren den Prozess ihrer Entstehung.
MOOC course: https://www.oncampus.de/weiterbildung/moocs/baltic_sea_history?lang=de
Online platform: http://balticseahistory.info/
1) Michael North. Geschichte der Ostsee. Handel und Kultur. Beck, München, 2011. S 1.