2.8 Die Alexander-Newski-Kathedrale in Tallinn

Juhan Kreem
Redakteure: Nikita Andrejevs und Alexandr Filyushkin

Der Domberg von Tallinn war in Estland schon immer Sitz der Staatsmacht. Obgleich die Esten ihn bereits befestigt hatten, erbauten die dänischen Kreuzritter 1219 auf dem Berg eine neue steinerne Burg. Im Mittelalter wurde diese unter der Herrschaft des Deutschen Ordens vergrößert und um den Hauptturm, den langen Hermann , erweitert. Im 18. Jahrhundert war die mittelalterliche Burg Sitz des Provinzgouverneurs, der dem russischen Zaren unterstand. 1920–1922 dann wurde die Burg zum Parlament der estnischen Republik umgebaut. Jede dieser Epochen hat Symbole der Macht auf dem Domberg hinterlassen; die Newski-Kathedrale neben dem Schloss wird besonders kontrovers bewertet.

Die Regierung des russischen Reichs ließ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Provinzen des Reiches mehrere große, dem Fürsten Alexander Newski gewidmete Kathedralen erbauen, zum Beispiel in Warschau und Helsinki. Auch der Kirchenbau in Tallinn gehört in diese Reihe.

Die Idee zum Bau der Kirche ging auf den Gouverneur Sergei Wladimirowitsch Schachowskoi zurück. Der Architekt Michail Preobraschenski bestand darauf, die Kathedrale auf dem die Stadt beherrschenden Domberg zu errichten, um die russische Herrschaft über die Provinz zu demonstrieren. Auch der Kirchenpatron Alexander Newski wurde nicht zufällig ausgewählt. Dieser Fürst, der im 13. Jahrhundert Nowgorod regierte, hatte die schwedischen Truppen in der Schlacht an der Newa und im Jahr 1242 auf dem Peipussee die Armee des Bischofs von Dorpat und des Deutschen Ordens geschlagen und wurde daher als Schutzpatron Russlands gegen katholische Invasoren aus dem Westen verehrt. Die Kathedrale wurde 1894–1900 im sogenannten „russischen Stil“ erbaut, der sich auf die Architektur des 17. Jahrhunderts in Moskau und Jaroslawl bezog. Sie war der Erinnerung an die wundersame Rettung des Zaren Alexander III. bei einem Zugunglück am 17. Oktober 1888 gewidmet.

Nach dem Zusammenbruch des russischen Reiches entstand überall das Bedürfnis, diese Herrschaftssymbole wieder loszuwerden. In Warschau wurde die unter ähnlichen Umständen erbaute orthodoxe Kathedrale abgerissen, in Helsinki bzw. Suomenlinna wurde das orthodoxe Gotteshaus der russischen Garnison in eine protestantische Kirche verwandelt. In Tallinn gab es zwar ähnliche Pläne, aber andere Fragen waren wichtiger und außerdem lebte in Estland eine beträchtliche orthodoxe Minderheit, die sich für den Schutz der Kathedrale einsetzte. In den 1960ern gab es Pläne der sowjetischen Herrscher, die Kathedrale in ein Planetarium umzufunktionieren; das Gotteshaus blieb jedoch erhalten. Entscheidend zu seiner Rettung beigetragen hat der junge Bischof von Tallinn und Estland Alexei Ridiger, der spätere Patriarch von Moskau und der ganzen Rus Alexius II. (1990–2008). 1995 wurde die Kathedrale in die estnische Liste der nationalen Kulturdenkmäler aufgenommen.

Heute ist die Kirche zwar nicht mehr bedroht, aber immer noch umstritten. Im Stadtbild der mittelalterlichen Hansestadt ist sie ein Eindringling. Für Touristen, die mit dem Kreuzfahrtschiff in die Stadt kommen, ist sie ein attraktives architektonisches Motiv und jeder Reiseführer, der in der ehemaligen Sowjetunion für das Reiseziel Tallinn wirbt, zeigt ihr Bild. Für den Teil der estnischen Bevölkerung, der der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats angehört, ist sie die Kathedrale (Bischofskirche). Obwohl die Esten sie nicht mehr abreißen wollen, bleibt sie ein Fremdkörper, der in ihren Augen kaum ihre Nation repräsentiert.

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Sergei Wladimirowitsch Schachowskoi war von 1885 bis 1894 Gouverneur des Gouvernements Estland. In der baltischen Geschichte ist sein Name mit Reformen verbunden, mit denen die Provinzen des russischen Zarenreichs modernisiert und vereinheitlicht, d. h. russifiziert, werden sollten. Außerdem war er die wichtigste Kraft hinter dem Bau der Newski-Kathedrale. In dem folgenden Briefauszug, in dem er um Spenden bittet, fasst er die Argumente zusammen, warum Tallinn eine neue russische Kirche braucht.

Ihr, meine orthodoxen Brüder, kennt nicht die Armut, die unsere Kirchen in Tallinn kennzeichnet. In jeder russischen Stadt, ob groß oder klein, ist dem Haus Gottes ein angemessener Ort zugewiesen. Aus vielen Meilen Entfernung erkennt man eine russische Stadt an den vielen von weißen Kreuzen gekrönten Kuppeln der Kirchen und Klöster; der Klang ihrer Glocken ist noch von fern zu hören. Wer hat diese Kirchen erbaut? Manche wurden von frommen Königen und Bojaren errichtet, andere von Heiligen gegründet, wieder andere von unbekannten Kirchenstiftern, und sie alle stehen für den Ruhm Gottes, das Entzücken des orthodoxen Herzens, wurden mit dem Fleiß der orthodoxen Gläubigen geschmückt, gefördert und erbaut. Nicht so in Tallinn. Egal ob man sich vom Meer her nähert oder über Land, man erkennt keine russische Stadt: es gibt hohe Türme, viele schöne spitze Glockentürme, aber sie alle gehören nicht zu orthodoxen, sondern zu protestantischen Kirchen. Nirgends sieht man ein orthodoxes Kreuz oder hört das sonntägliche Läuten. Unsere Kirchen sind überfüllt, armselig geschmückt und so zwischen Bürgerhäuser gedrängt, als ob sie nur dank deren Gnade existierten.
- Ревельский Александро-Невский собор на Вышгороде. Hg. von К. Тизикъ. Ревель, 1900. S. 13–15.

Der Architekt Karl Burman der Ältere (1882–1965) wurde an der Kunstakademie von Sankt Petersburg ausgebildet. In der estnischen Republik hat er als einer der Ersten die Frage einer estnischen nationalen Architektur aufgebracht. Er entwarf vor allem Wohnhäuser im Jugendstil, plante in den dreißiger Jahren aber auch ehrgeizige Projekte für die repräsentativen Funktionen der jungen Republik. Eine der frühesten Pläne in dieser Richtung war ein Vorschlag, die Newski-Kathedrale in ein Pantheon der estnischen Unabhängigkeit zu verwandeln.

Vom Domberg aus dominiert diese Kirche ganz Tallinn; ohne den für Russland typischen Sinn für Kultur erbaut, passt sich dieses Baudenkmal aber nicht harmonisch in das Bild der Altstadt ein, sondern wirkt eher wie von einer anderen Welt. Als Symbol für Arroganz und Gewalt ist sie mit ihrer fremdartigen orientalisch-bunten und grellen Farbsprache nicht nur für die deutschen Barone ihrer Zeit, sondern auch für unsere Unabhängigkeit eine ständige Erinnerung an frühere Sklaverei, auch wenn unser Volk dank des russischen Einflusses etwas freier atmen konnte.
- Karl Burman. “Iseseisvuse pantheon”. (Pantheon der Unabhängigkeit). In: Agu Nr. 1924 (21). S. 687–690.
Das Schicksal der Kirche steht nun auf der Tagesordnung. Ein Gesetz zum Abriss der Kirche liegt dem Parlament vor. Ein Präzedenzfall wurde in Warschau geschaffen, wo die Kathedrale zu demselben Zweck zerstört wurde, und das Schicksal der russischen Kathedrale in Kaunas ist in der Schwebe. Die Frage ist, ob die Kirche abgerissen werden soll oder nicht. Aber eines ist sicher – aus architektonischer Sicht kann sie nicht in ihrer bestehenden Form erhalten bleiben. Und gewiss muss auch der Kirchplatz neugestaltet werden. Der Platz vor der Burg Tallinn sollte zu einem estnischen Forum umgebaut werden, in dem die russische Kirche als Pantheon der Unabhängig dient.
- Karl Burman. “Toompea. Eesti Foorum”.(Domberg, estnisches Forum). In: Taie, 1928 (3). S. 161-163.

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Fragen zur Reflexion

  1. Warum wollte Schachowskoi in Tallinn eine russische Kirche bauen? Die Hintergründe werden im Kapitel „Wo Russland die Schweden zurückschlug: Die Schlacht an der Newa (1240) “ erläutert.
  2. Warum schlägt Karl Burman einen Umbau der Kathedrale vor?
  3. Gibt es in deiner Stadt Baudenkmäler, die manche Leute „unpassend“ finden? Wie sollte diese Situation gelöst werden?


Weiterführende Literatur

  1. Rein Zobel, Juhan Maiste, Mart Kalm. Toompea castle (Die Burg Tallinn). Tallinn, 2008.
  2. Jaanus Plaat. Õigeusu kirikud, kloostrid ja kabelid Eestis = Православные церкви, монастыри и часовни в Эстонии = Orthodox churches, convents and chapels in Estonia (Orthodoxe Kirchen, Klöster und Kapellen in Estland). Tallinn, 2011. S. 176–183.